Auch für das Örtchen gibt es einen geeigneten Ort

Bettlerin

Bettlerin in Paris | Foto: © 2016 Karl Traintinger

Eine fixe Idee verfolgt mich. Sie macht sich seit ein paar Jahren in meinem Hirn und in meiner Seele breit. Sie versucht mir die Gewissheit aufzudrängen, nirgendwo auf dem Globus offenbart sich der Abgrund zwischen arm und reich, zwischen Mächtigen und Mittellosen so klar und deutlich wie hier in Brasilien.

Reinhard Lackinger

Von Reinhard Lackinger,
Pensionierter Beislwirt in Salvador, Bahia, Basilien

Eine weltweite, seit Abel und Kain bestehende Schrägheit, die hierzulande nur auffallendere, unkonventionellere und aberwitzigere Kleider trägt als sonst wo.

Diese Wahrnehmung sollte der Menschheit dienlich sein und erlauben, Wege zu finden, um ein angemessenes, würdiges und sinnvolles Fortbestehen für alle Erdenbürger zu schaffen. Sowohl für die sogenannte Elite als auch für das einfache Volk.

Genauso wie Aborte an Stellen gebaut und eingerichtet werden, wo gesättigte Bürger verkehren, und Steueroasen geeignete Flecke für Geldwäscher und korrupte Staatschefs sind, ist Brasilien das ideale Land für ethnologische, anthropologische, soziologische, ökonomische und auch kriminologische Studien.

Klimaforscher, Astronomen und Astrophysikerinnen bauen ihre Sternwarten ja auch nicht an einem x-beliebigen Platz. Europäer suchten Anfang der Jahre 1960 einen geeigneten Standort auf der Südhalbkugel der Erde. 1969 wurde das La-Silla-Observatorium in Chile eröffnet. Dass die europäischen Astronomen gut gewählt haben, kann sogar ich bezeugen.

Als wir, meine Frau Maria Alice und ich einst spät nachts im Cajón del Maipo auf der Terrasse des Militär Resorts Guayacán saßen und den chilenischen Himmel betrachteten, schienen die Sterne am Firmament nicht nur zum Greifen nahe, sondern praktisch aneinander und übereinander zu kleben. Es war uns, als hätte die Via Láctea das Vale Central in ein mit abertausend Reflektoren beleuchtetes Stadion verwandelt. Als hätte der liebe Gott eine Abzweigung der Milchstraße ins Maipo-Tal gelegt.  

Stärker als die Strahlen des südpazifischen Sternenzaubers brennt das grelle Flutlicht, das alle brasilianischen Absurditäten und Ungereimtheiten schattenlos ausleuchtet. Paradiesische Sonderrechte für einige wenige, die Hölle für die breite Masse. Atomblitzartige Eindrücke, die kein Wegschauen ermöglichen oder gestatten.

Wenn ich meinen Österreichern und anderen Europäern davon erzähle, verziehen sie den Mund, als hätten sie etwas einzuwenden. Als wollten sie mir widersprechen, Beispiele aus ihrem Heimatland nennen und sagen, es gebe auch in ihrer Nachbarschaft Besitzlose und Millionäre. Ich weigere mich jedoch, ihren Entgegnungen viel Gewicht beizumessen. Ich spreche weiter, auch wenn mir keiner mehr zuhört.

Ich behaupte weiterhin, dass es zu derart drastischen Szenen des Horrors, die täglich vor unserer brasilianischen Beobachtungsstation aufmarschieren, in Österreich und Umgebung trotz Wurstigkeit und Gedankenlosigkeit vieler Individuen nicht so bald käme. So konservativ und faschistisch kann ich mir Europa trotz reger Phantasie noch immer nicht vorstellen.

Welche der brasilianischen Absonderlichkeiten zitiere ich am liebsten? Die fürstlichen Gehälter arschkriechender Staatsbeamten-Vasallen, die weit über dem gesetzlich festgelegten Limit liegen?

Oder, wie geht es täglich in Favelas zu? Bei Fahndungen in den Slums, in denen gerne Banditen untertauchen, treffen die Kugeln der Militärpolizei mit Vorliebe minderjährige, hagere, schwarze bis lichtbraune und kraushaarige Brasilianer.

Arme Dunkelhäutige sind in Brasilien Synonyme für Gesetzesübertreter, für Kriminelle.

Kleine Spitzbuben aus Elendsvierteln sollten sich in der Nähe der vornehmen Residenzen der Wohlhabenden am besten nicht sehen lassen. Da liegen im Nu drei bis vier Dutzend leere, von der Militärpolizei abgefeuerte Patronenhülsen auf dem Asphalt der Küss-die-Hand-Viertel… unweit schwarzer Menschenkadaver.

Ein Richter, der wegen Korruption oder anderen Delikten angeklagt und verurteilt wird, darf mit vollem Gehalt seinen Lebensabend genießen. Auch wenn er noch keine vierzig Jahre alt ist. Er wird sozusagen in die bestens bezahlte Pension „vertrieben“.

Ledige, unverheiratete Töchter von Militärs und hohen Staatsbeamten kriegen eine Pension auf Lebensdauer. Viele, nur kirchlich getraute Ehepaare, gehen irgendwann auseinander, ohne dass sie bei der Scheidung zum Standesamt gehen und sich um Gerichtskosten kümmern müssen.

Juridisch legale Irrwege ermöglichen schlitzohrigen Elementen der Exekutive, der Legislative und der Judikative vorsätzliche Fehlhandlungen, die sowohl zur Freilassung reicher Verbrecher, als auch zu Milliardenverlusten zu Lasten der Allgemeinheit und nur zu Gunsten Wohlhabender führen.  

Lehrer, andere Staatsdiener, Land- oder Obdachlose, die ihre legitimen Rechte verteidigen und aus leicht verständlichem Grund auf die Straße gehen um zu demonstrieren, werden von gut ausgerüsteten Bullen mit Stockhieben, Pfefferspray und Tränengas überzeugt, von ihrem Protest Abstand zu nehmen und ihre Massenversammlung sofort abzubrechen.  

Mit gutbürgerlichen Aufrührern im Dienste unbekannter Interessen, auch wenn sie Terrorakte ausüben, LKWs und Omnibusse anzünden und in Brand stecken, um Straßen zu blockieren, gehen gewissenhafte und sympathische Ordnungshüter sanft und wie mit Glacéhandschuhen um. Solche Aufrührer werden von der Presse unter Polizeischutz interviewt und bei den nächsten Wahlen mit einem Mandat belohnt. 

Schwerverbrecher mit Universitätsdiplom kommen in eine Art Spezialhaft. Die Justiz steckt sie also nicht mit anderen dreißig Sträflingen in eine Zelle für nur vier Gefängnisinsassen. Akademische Zuchthäusler werden wie Hotelgäste behandelt und haben im „Häfen“ einen Kühlschrank mit Kaviar, Tafelspitz und Langusten, aber auch einen viel besseren Mobiltelefonanschluss als in der Nachbarschaft des Knasts.   

Als während der Regierungen der Arbeiterpartei arme Brasilianer zu Konsumenten wurden, vor uns an der Kasse der Supermärkte oder beim Check-In der Flughäfen standen, und ihre Kinder in Lehrsälen der Universitäten neben Studenten aus Bürgerfamilien saßen, explodierten Neid und Missgunst der Mittelklasse.

Der Putsch 2016 brachte uns den rechtsextremen Bolsonaro. In vier Jahren hat er „wieder Ordnung“, oder besser Unordnung geschafft. Genaugenommen hat er alle mit Mühe und Blut erkämpften Sozial-und Verwaltungsstrukturen Brasiliens zerstört.

Wer die amerikanische Geopolitik kennt, weiß, wie das geschehen konnte, wen Bolsonaro nachahmte, wessen Befehle und Verordnungen er befolgte.

2022 waren an Straßenkreuzungen wiederum bettelnde Kinder zu sehen. Ganze Familien mit halbnackten Säuglingen lungerten in der Nähe von Lebensmittelgeschäften auf Gehsteigen und in Hausnischen.

Konsumenten wurden Rinderknochen und Geflügelfüße angeboten. Erwachsene sprangen auf das Heck der Abfall sammelnden Müllwagen, entrissen ihnen Essbares.

In den letzten vier Jahren tauchten rund 35 Millionen Brasilianer in den unvermeidbaren Strudel des Elends, der mehrere Etagen unter der Armutsgrenze liegt.

Die einstige Distanz zwischen arm und reich, zwischen Habenichtsen und Mittelklasse war wiederhergestellt. So schnell ging das.

2023 wachten wir von diesem Albtraum auf. Bolsonaro war weg. Es thronen aber weiterhin viele Dämonen auf wichtigen Stühlen und an zahlreichen Orten. In der Zentralbank, im Parlament, im Obersten Gerichtshof und Pastoren evangelikaler Sekten machen Gottvater zum Wahlkämpfer erzkonservativer Parteien, zu ihrem persönlichen Scharfrichter.

Unlängst schnappte ich im sozialen Netzwerk eine interessante Stellungnahme auf. Rosalvina Jesus dos Santos parierte die Botschaft eines brasilianischen Facebook-Freundes, der gerne angibt und zeigt, wie gut es ihm geht. Wie er sich auf seinem Segelboot an der Bahia-Marina bei Kaviar und Champagner gütlich tut.

Sie sagte: Erwerbstätige, egal wie viel sie monatlich verdienen, die sich wie Gutbürgerliche aufführen, konservative Parteien wählen und nur das Genießen von Traumhaftem im Sinn haben, stellen das neue Lumpenproletariat dar.

Darüber muss ich erst nachdenken. Vielleicht helfen mir apolitische Zeitgenossen mit Rolex am Handgelenk und Mercedes unter dem breiten Hintern auf die Sprünge. Ihnen ist der Genuss sicher, solange sie für ihre Arbeitsleistungen bezahlt werden.

Es sei denn, sie waren Richter und haben Krummes getan oder sind ledige, unverheiratete Töchter eines Hauptmanns oder Generals der brasilianischen Streitkräfte. Für die gibt es kein „Schlechtwetter“ und sollte es jemals eine Sintflut geben und alle auf der Erde lebenden Wesen bedrohen, schwappt diese weit hinter ihnen her.

Nirgendwo fallen einem kollektive Verrücktheiten und gesellschaftliche Missstände so klar, offenbar und unmissverständlich ins unbewaffnete Auge wie hier in Brasilien?

Schauen die Einwohner reicher Industrieländer immer noch auf Länder mit ausgefranstem Gesellschaftsgewebe, erspähen dabei nur Bilder der Tourismuspropaganda wie paradiesische Palmenstrände, Wasserfälle, preisgünstige Urlaubstage? Dabei rumort es im Hirn und auf dem Zwerchfell mancher Reisenden, blinken Warnsignale, sobald sie das Flugzeug verlassen und den tropischen Hauch der gefahrvollen und unterentwickelten Welt einatmen.

Dürfen sie sich zu Hause weiterhin in Sicherheit wähnen und sich geborgen fühlen? Glauben sie sich noch immer aus dem Schneider? Was erhält sie am Glauben, der postkapitalistische Teufel, der neoliberale Satansbraten, hätte ihre heile Welt vergessen und lasse sie unbehelligt?

Hat er nicht schon viele klassenbewusstLose Individuen und zufriedene Genießer traumhafter Augenblicke im Schwitzkasten?

Vielleicht kann Brasilien mit seinen bizarren Beispielen sachdienlich und hilfreich sein und die Einwohner Europas vor postfaktischer Leibeigenschaft warnen, schützen und behüten.

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