Reinhard Lackinger: Asoziale

Arnsdorf Stille Nacht in Arnsdorfmit dem Gruber Museum und der Wallfahrtskirche Maria im Mösl | Foto: Karl Traintinger Dorfbild.com

Reinhard Lackinger

Eine nicht ganz unschuldige Weihnachtsgeschichte

Ilse, gönne uns doch die kleinen Belanglosigkeiten. Wir, Karin und ich, sind ja nur Urlauber und keine Soziologen. Wir sind weder  Anthropologen, noch Architekten. Wir begnügen uns mit den obligaten Sehenswürdigkeiten dieser Stadt, in der du lebst und wirkst, sagt Manfred ins rhythmische Schaben des Scheibenwischers. Die Frau am Lenkrad schaut geradeaus. Der Verkehr verzopft sich über der unregelmäßig grau und schwarz glänzenden Asphaltdecke.

Jeder herbeigelaufene Reiseführer kann euch Museen, den Barra-Leuchtturm, barocke Kirchen, den Lacerda-Aufzug zeigen, euch beide durch den Pelourinho, die koloniale Altstadt Salvadors und durch den Mercado Modelo schleusen. Den Strand könnt ihr bei diesem Regenwetter ohnehin vergessen. Aber auf diese Möglichkeit würdet ihr bei Sonnenschein wahrscheinlich auch verzichten und das Schwimmbecken in eurem Hotel vorziehen, nicht wahr?

Liebe Ilse, sei bitte nicht böse auf uns, aber wir haben wirklich keine Lust mehr auf Elendstourismus. In der letzten Stunde habe ich schon genug Bruchhütten, unzählige Asoziale vor ihren komischen Bauten aus unverputzten Backsteinen gefilmt. Die Frau am Lenkrad lacht laut auf. Asoziale, wiederholt sie. Manfred, dieses Unwort habe ich über dreissig Jahre nicht mehr gehört. Wieso Unwort? So nennt man doch immer noch Penner und Menschen, die am Rande der ordentlichen Gesellschaft leben, sagt Karin.

In diesen mehr oder weniger improvisierten Behausungen teilen Dutzende von Menschen nicht nur ein und die selbe Hütte, sondern vielfach auch das Bett, während bei euch zu Hause heutzutage jeder alleine in seinen vier Wänden lebt. Fragt sich jetzt nur, wer in dem Falle als Asozialer gilt!

Nach den hohen Mauern um Einfamilienhäusern der Nobelviertel und die Umzäunung mit Schildhäuschen und Wächtern der weihnachtlich dekorierten Hochhäuser zu schließen, dürfte die dunkelhäutige Menschenmasse bei eurer gehobenen Schichte nicht besonders willkommen sein. Als Hausbedienstete vielleicht. Jedoch nicht als Gast, nehme ich an. Als nächtlicher Besucher und unerwünschtes, negroides Christkind schon gar nicht -, sagt Manfred neckend.

Konkrete Zeichen der Konspiration, die die Kluft zwischen reich und arm immer größer macht -, sagt Ilse. – Wenn es mir gelang, euch beiden diesen schreienden Kontrast im brasilianischen Gesellschaftsgefüge, das heutige Betlehem offenbaren zu helfen, dann kann ich ja zufrieden…

Schau, unterbricht Manfred seine Cicerone, führt die Filmkamera blitzschnell wieder zum Auge. Der Blick der Lenkerin folgt dem Objektiv des neben ihr sitzenden Urlaubers. Wie instinktiv verringert sie die Geschwindigkeit, drängt an den rechten Straßenrand, bis das Vehikel zum Stehen kommt.
Parallel zum Parkplatz des Supermarktes rennt ein kleiner Schwarzer um sein Leben. Die rechte Hand umklammert ein Objekt. Hinter ihm läuft ein dicklicher Mann in roter Tracht mit Wattebart. Dieser schreit, gestikuliert mit dem Bischofsstab, während der Knabe das Weite und die Gassen der nächstliegenden Favela sucht.
Aus der umstehenden Menschenmasse am Straßenrand, die genau wie die Insassen des Autos die Szene verfolgt, löst sich ein uniformierter Mann, nähert sich mit großen Sprüngen dem flüchtenden Burschen. Dieser huscht hin zum Elendsdviertel, verschwindet hinter einem riesigen Müll-Container. Der Polizist folgt ihm, greift zum Gürtel.  Dem visuellen Spektakel folgt ein akustischer. Ein Schuß. Zwei weitere Schüsse. Manfreds Filmkamera schnurrt. Er kriegt die Schar der langsam zum Müll-Container pilgernden Schaulustigen aufs Bild.  Dort bleibt die Meute stehen. Der dickleibige Weihnachtsmann wackelt herbei, drängt sich durch den Menschenknäuel, dem plötzlich die Aufregung von vorher fehlt.
Karin wird als erster die Ungeheuerlichkeit des Geschehens bewußt. Ich will weg von hier, schreit sie. Fahren wir weiter! Schnell! Die Frau am Lenkrad folgt der Bitte ohne zu zögern, schiebt Gang nach Gang ein, tritt auf das Gaspedal. Wenn ich dem Kurt diesen Film zeige… , sagt Manfred. Ich wollte, ich hätte diese Szene nie erlebt, stößt Karin hervor. Bei so realistischen Bildern kann einer sogar auf den Kadaver des erschossenen Buben verzichten, sagt Manfred. Wer sagt dir, daß es den schwarzen Knaben erwischt hat, fragt Ilse.

Ich habe den Revolver gesehen, den der Uniformierte in der Hand hielt, argumentiert Manfred. Es kann hinter dem Müll-Container ein bewaffneter Kumpane des Jungen gewartet haben. Es soll öfter zu Konflikten zwischen Spitzbuben und Polizisten kommen, weil sie sich beim Teilen des Raubgutes oder beim Handel mit Drogen nicht einigen können, erklärt Ilse. Kriminell so etwas -, meint Manfred. Ich will schleunigst weg und weiter und zurück ins Hotel , insistiert Karin.

Wenn ein Uniformierter erschossen wird, kommen spätestens zwei bis drei Tage später vermummte Polizisten daher und exekutieren in den umliegenden Favelas ein Dutzend schräger Burschen, die bis dahin an der kriminellen Symbiose teilnahmen…, erzählt Ilse. Vielleicht kann ich den Streifen daheim den Medien anbieten, sagt Manfred bei sich. Ich will weg! Ich will ganz schnell wieder ins Hotel, ruft Karin. Die Frau am Lenkrad fährt schneller.

Der Regen versteckt ein Schlagloch. Eben voll, mit Wasser getarnt, groß und tief genug, um die Felge des linken Vorderrades zu verbiegen. Schlagartig verliert der Reifen die Luft. Das Gefährt rüttelt über den Asphalt und an den Straßenrand. Drei Halbwüchsige eilen herbei. Die Frau steigt aus, bleibt einen Moment kopfschüttelnd vor dem Vorderrad stehen, geht um das Auto herum, öffnet den Kofferraum, erteilt den Burschen Anweisungen. Manfred zerrt sich aus dem Auto, lehnt sich an den Wagen. Mit beiden Händen drückt er seine Filmkamera an die Brust, vor den Augen der Umstehenden und den paar Regentropfen schützend, die der Wind auf sie herniederweht. Karin bleibt mit verschränkten Armen im Heck sitzen. Die Burschen bewegen sich schnell. Die Muttern des Rades quietschen unter dem Druck des Schraubenschlüssels. Der Schmutz am Straßenrand erinnert an den Kot, der nach dem Tauwetter die heimatlichen Straßen mit dem zuvor aufgeschütteten Sand verziert. Das Rad  mit der  verbogenen Felge wird mit Wagenheber nebst Radschlüssel verstaut. Ilse zückt ihr Portemonnaie. Sie reicht dem Anführer der drei Schwarzen einige Geldscheine. Dieser nickt dankend., wendet sich an seine Kollegen. Ilse und Manfred steigen ins Auto. Die Fahrt geht weiter. Die Frau am Lenkrad beobachtet Karins verängstigtes Gesicht. Gott sei Dank, sagt Manfred. Das ist ja noch gut ausgegangen.

Du gehörst scheinbar auch zu denen, die in jedem abgerissen aussehenden und schlecht gekleideten Schwarzen einen gefährlichen Verbrecher vermuten, nicht wahr, sagt Ilse.  Ich habe gesehen, wie mich alle Menschen rings herum musterten. Ich fühlte mich wie eine Beute vor den Augen hungriger Raubtiere…  wie ein Christbaum…
Diese Jugendlichen sind nicht viel anders als wir es waren… in den schlechten Zeiten nach dem Krieg. Immer auf der Lauer, ein paar Groschen zu verdienen…

Und du gibst ihnen die schäbigsten Banknoten, die du hast! Ich hätte filmen müssen, wie du die zerknitterten Scheine aus deiner Tasche suchtest. Diese waren für die Jungen gerade gut genug, nicht wahr, lacht Manfred.

Ilse sagt nichts, fährt langsamer als zuvor. Nehmen wir an, die Burschen hätten bemerkt, daß du ihnen just die abgenutzten und halb zerfetzten Geldscheine ausgesucht hast. Sie hätten frech werden… und wer weiß, uns überfallen und ausrauben, sich auf kriminelle Weise schadlos halten können. Wir führen nichts bei uns, das die Begierde eines Spitzbuben wecken könnte. Weder Karin noch ich tragen Schmuck, mein Handy ist das billigste Ding auf dem Markt. Die kleinen Diebe haben es auf Geräte abgesehen, die Photos schießen und weiß der Kuckuck für Stücke spielen, sagt Ilse und lacht. Und meine Filmkamera? Du vergißt meine Filmkamera mit allem Zubehör, das ich bei mir trage.

Unsere Strauchritter und Langfinger sind zwar bettelarm, aber nicht dumm oder träge, sondern hell genug, um blitzschnell abzuschätzen, ob es sich lohnt, ein Objekt zu entwenden oder nicht. Einen VHS-Videofilmapparat könnte einer haben wollen. Eine neue Digitalkamera ganz bestimmt… aber deine uralte, jurassische und vorsintflutliche Super-8-Maschine wird dir hier keiner streitig machen…
So, da sind wir wieder. Genießt euer Luxushotel! Jetzt könnt ihr ausspannen, die sauberen Souvenirläden mit den braunen Schönen in bunter, afrikanischen Trachten filmen… zum Kontrast zu den anderen Bildern.

Frohe Weihnachten euch beiden.
Salvador, Brasilien 24.11.06

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