Reinhard Lackinger: Es herbstelt bei mir im tropischen Frühling

Mit jedem Auftauchen einer elektronischen Neuigkeit bemerke ich, dass ich alt geworden bin und mich längst im Herbst des Lebens herumtreibe. Früher galten junge Menschen als unerfahrene Grünschnäbel und die ältere Generation als erfahren und weise. Kinder waren Anfänger, Erwachsene Fortgeschrittene und Greise hoch geehrte und geschätzte Ratgeber.

Von Reinhard Lackinger.

Im Frühling meiner Existenz assoziierten wir das Wort “Fortgeschritten” gerne mit jahrelangem Lernen und Üben; mit einem selbstbewussten, von Laien und Anfängern bewunderten Auftreten; mit den flinken Frauenhänden beim Knüpfen von Klöppelspitzen; mit den sonderbar gespitzten Lederlippen der Blasmusiker oder mit den muskulösen Gliedmaßen und an Maroniöfen erinnernden Oberkörpern von Gewichthebern und Hammerwerfern.

Andererseits wurden Anfänger im Lenz meines Lebens mit Schulranzen tragenden Tafelklasslern in Verbindung gebracht. Anfängern haftete die Mühe an, stundenlang Schönschrift zu üben, sowie schwerleibige “Kilonoten” auf und ab und über nicht enden wollende Tonleitern zu zerren.

Frühling und Sommer sind vorüber und Computer, sowie numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen und andere Roboter haben längst den Großteil aller händischen Fertigkeiten abgebaut und in die Altersrente geschickt. Ein bedeutender Teil unserer Muskeln und auch des Hirns, sind allein der Fernbedienung elektronischer Geräte zum Opfer gefallen. Windows, Google und Facebook sickern mit der Muttermilch in die Neugeborenen. Kaum können die Kleinen gehen und ein “a” von einem “b” unterscheiden, sind sie auch schon keine Anfänger mehr, sondern “user”! Alles was sie wissen müssen ist bereits vorgekaut und mundgerecht in Griffnähe.

Plötzlich springt uns alle Welt aus dem Monitor direkt in den Schoß. Internet macht alles möglich… wenigstens in einem virtuellen Universum. Die einstigen Tafelklassler manipulieren illustriertes Wissen, von dem die Experten erst unlängst kaum zu träumen wagten. Geschicktlichheit und besondere Fähigkeiten von Extremitäten, Lippen, Lunge und Stimmbändern dienen nur noch Sportlern und Künstlern, Akrobaten, Musikern, Sängerinnen und anderen Superstars und in Multimillionäre verwandelte Gaukler. Aber auch in diesem Bereich kommt uns die Maschine immer näher. Es schaut nun wirklich so aus, als gebe es keine Anfänger mehr.

Nur Fortgeschrittene wagen es, zur Abwechslung den Computer auszuschalten, aufzustehen und auf die Straße zu gehen. Nur Fortgeschrittene denken an die Möglichkeit, ohne elektronische Logistik und GPS, auf eine geordnete Umwelt und soziale Gewissheit zu verzichten und mit kritischen Augen auszuziehen, um selbst das Fürchten zu lernen.

Als alternder Beislwirt beobachte ich junge Pärchen, vor ihren Tellern und Gläsern sitzend, ein jeder, das iPhone in der Hand, telefonierend. Eine Form der Einsamkeit, die noch vor dreißig Jahren undenkbar gewesen wäre. Nagt die virtuelle Welt tatsächlich an der Menschlichkeit, wie ich Oldtimer es seit einiger Zeit prognostiziere? Oder ist das nur ein Zeichen meiner Inkompetenz, all diese elektronischen Spielzeuge handzuhaben und zu nützen?

Heute verschickt kein Mensch mehr handgeschriebene Briefe. Es werden solche auch nicht mehr erwartet oder empfangen. Auf Ferienreisen kauft und verschickt auch keiner mehr Ansichtskarten aus Lignano Sabbiadoro, Paleokastritsa oder St. Pé de Bigorre. Briefmarken gehörten zum Universum anachronischer Philatelisten.

Urlauber verreisen heute mit Notebook und eingebautger Webcam, quatschen stundenlang über Skype und versenden Fotos und Filme per Internet. Der mit GPS ausgerüstete Leihwagen führt den Lenker direkt bis zur Hotelpforte.

Nein danke! Das alles brauche ich als alter Mensch nicht! Anstatt per Skype gratis mit Daheimgebliebenen zu plaudern, sitze ich lieber irgendwo in einem Wirtshaus unter Einheimischen. Auch verlasse ich mich auf kein GPS. Da frag´ ich lieber die Passanten auf der Straße, auch wenn mir die meisten nicht helfen können, sondern mit osteuropäischem Akzent antworten. Während die alten Landsleute zu Hause vor dem Fernseher oder in einem aseptischen Einkaufszentrum herumlungern, freuen sich Bosnier und andere ehemaligen Jugoslawen anscheinend immer noch, in frischer Luft spazieren gehen zu können, ohne Angst zu haben, über eine Tretmine zu stolpern. So ein Flüchtling hat mehr mit mir gemein als die Eingeborenen.

Auf einmal ist es, als begegnete ich mitten im Herbst dem Frühling in Form von Menschen ohne diese ekelhafte soziale Gewißheit, die mir bei verhätschelten Österreichern, und mittlerweile auch bei vielen Brasilianern auf die Nerven geht

Brasilien im November 2011.

 

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