Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Über die zweifelhafte Lust am Verzweifen.

Kanaldeckel Traunstein

An alle, die den großen Romancier Fjodor M. Dostojewksij schätzen oder (neu) kennen lernen wollen: Barbara Wolfram bringt seinen weniger bekannten Prosatext „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ (in anderer Übersetzung: „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“) auf die Bühne. Der 1864 verfasste Roman ist weitgehend monologisch. In der Theaterfassung schlüpft Ben Pascal in die Erzählerrolle.

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Von Astrid Müller

Aus einem Kellerloch tönt Kritik an dem Vernunftglauben. Der Erzähler spricht über Mauern, die den Menschen behüten und begrenzen. Und sein Sprechen ist Kampf, ist ein Schlag gegen diese Mauern. Der Anschein von Reglementierung und Messbarkeit wirkt sich beruhigend auf den Menschen aus. Mit seinen Zungenschlägen verschafft sich der Unberuhigbare Momente der Erleichterung.

Der Prosatext ist kompakt. Für die Theateradaption mussten Textkürzungen erfolgen. Zuseher, denen der Originaltext unbekannt ist, könnten die Kürzungen Verständnisschwierigkeiten bereiten. Bei Interesse für das Stück kann die folgende Passage aus den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch/Untergrund“ Verständnisvorarbeit leisten, vielleicht auch Lust auf umfangreichere Dostojewskij-Lektüre wecken:

Erster Teil – Viertes Kapitel (Übersetzung von E. K. Rahsin)
Hahahah! „Aber dann werden Sie ja auch noch an Zahnschmerzen Genuss finden!“ wenden Sie lachend ein. „Warum nicht? Auch im Zahnschmerz ist Genuss“, antworte ich. Einmal habe ich einen ganzen Monat Zahnweh gehabt; ich weiß, wie das ist! Hierbei erbost man sich natürlich nicht schweigend, man stöhnt. Nur ist es dann kein aufrichtiges, sondern ein schadenfrohes Gestöhn, aber in dieser tückischen Schadenfreude ist ja alles enthalten! Gerade in diesem Gestöhn drückt sich ja die ganze Wonne, der ganze Genuss des Leidenden aus: empfände er dabei keinen Genuss, so würde er auch nicht stöhnen. Das ist ein gutes Beispiel, meine Herrschaften, bleiben wir bei diesem. In Ihrem Stöhnen liegt erstens die ganze für Ihre Erkenntnis erniedrigende Zwecklosigkeit Ihres Schmerzes, die ganze Gesetzmäßigkeit der Natur, auf die Sie natürlich spucken können, doch durch die Sie trotzdem leiden, die Natur aber nicht.

Zweitens, die Erkenntnis, dass kein Feind vorhanden, der Schmerz aber vorhanden ist, die Erkenntnis, dass Sie zusammen mit allen möglichen Ärzten vollkommen Sklave Ihrer Zähne sind; dass, falls es irgendjemand will, Ihre Zähne nicht mehr schmerzen werden, wenn er das aber nicht will, sie noch weitere drei Monate schmerzen werden; und dass schließlich, wenn Sie sich immer noch nicht ergeben und immer noch protestieren wollen, Ihnen zur eigenen Beruhigung nur noch übrigbleibt, sich selbst durchzuprügeln oder mit der Faust etwas schmerzhafter an Ihre Mauer zu schlagen, sonst aber entschieden nichts. Nun, sehen Sie, gerade unter diesen Beleidigungen bis aufs Blut, unter diesem Verspottetwerden, ohne zu wissen, von wem, beginnt man dann allmählich diesen Genuss zu empfinden, der sich manchmal bis zur höchsten Wollust steigern kann.

Bitte, meine Herrschaften, hören Sie doch einmal aufmerksam dem Gestöhn eines gebildeten Menschen des 19. Jahrhunderts zu, wenn er Zahnweh hat, aber schon so am zweiten oder dritten Tage, wenn er nicht mehr so stöhnt wie am ersten Tage, das heißt, nicht nur einfach, weil seine Zähne schmerzen, nicht wie irgendein ungebildeter Bauer stöhnt, sondern wie ein Mensch, der bereits von der Entwicklung und der europäischen Zivilisation berührt ist, oder wie ein Mensch, der sich „vom Boden und dem Volke losgesagt hat“, wie man sich jetzt auszudrücken pflegt. Sein Gestöhn wird gewissermaßen gemein, schmutzig-boshaft und hält ganze Tage und Nächte an. Und er weiß es ja selbst, dass dieses Stöhnen ihm nicht den geringsten Nutzen bringt; weiß es selbst am allerbesten, dass er damit ganz umsonst nur sich wie auch die anderen ärgert und reizt; er weiß sogar, dass das Publikum, vor dem er sich solche Mühe gibt, seine Familie, ihm schon bis zum Widerwillen zugehört hat, ihm nicht für einen Pfennig glaubt und bei sich denkt, dass er doch anders, einfacher stöhnen könnte, ohne Tonleitern, Koloraturen und Variationen, dass er es nur aus Bosheit, aus Schadenfreude tut.

Nun, gerade in diesen Erkenntnissen und Qualen aber liegt ja die Wollust! „Ich beunruhige euch, zerreiße euch das Herz, gönne keinem im Hause Schlaf! So wacht denn gefälligst, fühlt mal mit, dass meine Zähne schmerzen! Jetzt bin ich für euch nicht mehr der Held, der ich früher scheinen wollte, sondern einfach ein gemeines Menschlein, ein Schnapphahn am Wege. Nun gut! Freut mich sehr, dass Ihr mich durchschaut! Mein hässliches Gestöhn widert euch wohl an? Nur zu! werde euch gleich eine noch hässlichere Tonleiter vorstöhnen…“ Verstehen Sie es auch jetzt noch nicht, meine Herrschaften? Nein, es scheint doch, dass man sich lange bis dahin entwickeln und tief in die Selbsterkenntnis hinabsteigen muss, um alle Ausschweifungen dieser Wollust verstehen zu können. Sie lachen? Freut mich! Meine Späßchen sind vielleicht etwas abgeschmackt, sind uneben, wirr und voll von Misstrauen gegen mich selbst. Aber das kommt doch daher, dass ich mich selbst nicht achte. Kann denn ein erkennender Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten?

Theatertipp – 5. Oktober 2014 um 18 Uhr in den Kavernen 1595 (5020 SBG – Gstättengasse)

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