Tropische Bauchredner

Cristo Redentor in Rio

Cristo Redentor in Rio | Foto: Astrid Götze-Happe pixelio.de

Die kuriose Kehrseite der Geschichte Brasiliens

Brasilianer benutzen gerne zwei verschiedene Worte für Geschichte! Sie gebrauchen den Begriff „Estória“, wenn von einer Erzählung, von Fiktion die Rede ist. „História“ wiederum schreiben sie, wenn konkrete Fakten gemeint sind und ernsthafte Historiker am Werk waren, um aus der Vergangenheit eine Wissenschaft zu machen.

Reinhard Lackinger

Von Reinhard Lackinger
Salvador, Bahia, março 2020

Es dauert eine Weile bis ein Fremder in einem verrückten Land wie Brasilien versteht, dass gelegentlich „Estória“ mit „História“ vertauscht wird und dass es sich bei Geschichte um ein ganz anderes Thema handelt 

Nachdem ich mein Projekt als Entwicklungshelfer im Landesinnern Bahias verlassen hatte, um in Salvador, Bahia eine neue Existenz zu versuchen, stieß ich sofort auf gebildete Brasilianer. Das heißt, ich verkehrte in meiner Freizeit fast ausschließlich mit graduierten Menschen und Studenten, die gerade einen Universitätskurs absolvierten.

Das war Anfang der 70 er Jahre. Ich war damals zu sehr mit der neuen und lokalen Lebensweise, den kuriosen Wertvorstellungen der Brasilianer und der Geschichte des Landes beschäftigt, um Naheliegendes zu bemerken. Und zwar, dass die meisten meiner neuen Bekannten nur ein einziges Ausland zu kennen schienen! Florida mit Miami, Orlando und Mickey Mouse! Das US-T-Shirt ist meinen Baianos heute noch viel näher als der mitteleuropäische Wintermantel. 

Die Alliance for Progress hat ihr Ziel erreicht! Junge Amerikanerinnen und Amerikaner haben ihre Pflicht erfüllt und waren mittlerweile abgereist und in ihre Kuhdörfer nordamerikanischer Einöde zurückgekehrt. Onkel Sam hat Brasilien erfolgreich vor der akuten Bedrohung geschützt, die kubanische und sowjetische Kommunisten repräsentierten.

Die jungen Opfer jener nordamerikanischen Gehirnwäsche sagten mir wenig! Mich interessierten erwachsene Menschen, mit denen ich über Brasilien sprechen konnte!

Aber jedes Mal, wenn ich mit Virginia dos Santos Monte, Sylvio Matoso, Teodoro Pereira de Souza oder sonst einer mir bekannten Person aus der gehobenen Gesellschaft Bahias telefonierte, kam es mir vor, als hätte ich den Magen voller Sägespäne.

Es war mir ein Rätsel, dass jemand Fakten, Zustände und Gegebenheiten, die mit sozialer Ungleichheit und gewissensloser Vergeudung von Produktionsmittel anders sehen konnte als ich. Das verwirrte mich!

Was meiner unbescheidenen Meinung nach nur eine Frage von gesundem Menschenverstand sein konnte, gewann plötzlich andere Farben und Dimensionen. Das Telefongespräch wanderte in eine mir unerwartete und unerwünschte Richtung. So wurde aus dem bösen Schmarotzer ein Prinz und aus dem Helden ein hinterlistiger Wegelagerer und Cangaceiro

Tête-à-tête fühlte ich mich jedoch frei von jener Ohnmacht die mich fesselte, wenn ich jemanden anrief um zu tratschen. Warum, weiß ich heute noch nicht so recht. Vielleicht lag es an den Räumen, in denen wir uns befanden. An Dekorationsobjekten, oder an herumliegenden Zeitschriften. Stumme Zeugen meiner ganz persönlichen Ansichten!

Wer in jenen Jahren der Militärdiktatur mehr über Brasilien wissen wollte, begab sich auf ein glitschiges Terrain. Wer außer den obligaten Ansichtskarten wie Rio de Janeiro, Copacabana, Zuckerhut, Karneval, Café und Pelé noch andere Interessen zeigte und Bossa Nova liebte, galt bald als Subversiver…

Die Geschichte Brasiliens besteht seit über 500 Jahren und der Eroberung durch die Portugiesen aus kilometerlangen und abertausende Archive füllende Kriminalakten!

Alle Welt spräche von absurdesten und verbrecherischsten Skandalen, würden die Dokumente dieser Strafprozesse nicht fortwährend vernichtet, verbrannt und zu Konfetti für den nächsten Karneval verarbeitet!

Die Buchhaltung des über dreihundert Jahre dauernden Sklavenhandels zum Beispiel, die der große und vielleicht bedeutendste brasilianische Denker, Poet und Politiker Rui Barbosa zerstören ließ.

Damit starb die Identität der aus verschiedenen Teilen Afrikas importierten Menschen, die hier in Brasilien versklavt, geschunden und zu Arbeitstieren gemacht wurden. Eventuelle Ansprüche auf Wiedergutmachung, die irgendjemand irgendwann stellen könnte, sollten auf diese Weise verhindert und unmöglich gemacht werden.

Täglich fälscht die lügenhafte und räuberische Elite Brasiliens Beglaubigungen, Urkunden, Verträge, Zeugnisse, Doktorarbeiten, Lebensläufe, Wahlergebnisse, labormedizinische Diagnosen und macht lebhaften und regen Gebrauch von allerlei Fake News.

Diese Manöver, diese Prozeduren führten zu zwei verschiedenen Auffassungen, Ansichten und Auslegungen brasilianischer Vergangenheit und Gegenwart.

Zur offiziellen Geschichte des Landes, die in den Schulen unterrichtet wird und zur – je nach Standeszugehörigkeit der Gesprächspartner und Redner – unterschiedlich interpretierten Wirklichkeit.

Reiche Brasilianer, kleine Bürger und mittellose Konservative neigen der offiziellen Geschichte Glauben zu schenken und diese mithilfe absurdester Argumente zu verteidigen.

So sprechen viele brasilianische Mittelklassler immer noch von einem Canudos-Krieg, der von 1896 bis 1897 im Nordosten Bahias stattgefunden hat!

In der Tat handelte es sich um einen Völkermord! Um einen Genozid, den der Staat am eigenen Volk verübt hat! Ein blutiger Konflikt zwischen der eigenständigen, von Antônio Conselheiro gegründeten Agrar-Kommune und schwer bewaffneten Streitkräften der neuen brasilianischen Republik. Ein ungleicher Kampf, bei dem über fünfundzwanzigtausend Zivilpersonen, Männer, Frauen, Kinder und Alte ums Leben kamen. Wie viele Söldner aus dem Lager des Heeres bei jenen vier Angriffen gefallen sind, weiß auch keiner. Waren es hundert oder zweihundertsiebenundachtzig?

Dreimal gelang es den einfachen Bauern und Bewohnern von Canudos ihre erfolgreiche Kommune und produktive Siedlung zu verteidigen. Erst beim vierten Überfall brachte das brasilianische Militär es fertig, Canudos vollkommen zu zerstören und alle Einwohner zu töten. Dynamitbomben ließen keinen Backstein auf dem anderen. Weniger als ein Dutzend soll überlebt haben. Antônio Conselheiro, religiöser Anführer und Koordinator der Kommune starb ein paar Tage vorher an Cholera. 

Das vielgerühmte und hochgelobte, 1902 erschienene Buch „Os Sertões“ handelt von jenem Blutbad. Euclides da Cunha, der Autor des journalistischen Werkes war bis knapp vor der endgültigen Vernichtung Canudos´ als Beobachter und Berichterstatter zugegen. Den letzten Satz jener tragischen Symphonie hat er leider verpasst und nicht miterlebt. Er ist vor dem Ende jenes schaurigen Trauerspiels abgereist!

Euclides da Cunha gibt in seinem Buch „Os Sertões“ Auskunft über Land und Leute. Wie kein anderer bringt er dem Leser das dürre Hinterland des brasilianischen Nordosten nahe, macht ihn auf bedeutende Details der Geographie, Geologie aufmerksam und spricht über Flora und Fauna.

Jedoch für seine Beschreibung der Zerlumpten, der Entrechteten, der Mittellosen, der Stiefkinder in jener wüstenhaften, knochentrockenen und dornenreichen Umwelt kriegt Euclides da Cunha von mir nur ein Nichtgenügend, einen Fünfer! Euclides da Cunha sieht in den Bewohnern von Canudos und allen abgezehrten und zotteligen Gestalten, die sich Antônio Conselheiro angeschlossen hatten und fortwährend nach Canudos zogen, fanatische und böswillige Monarchisten und Feinde der Republik.

Vor dem Hungertod fliehende und durch die Abolition der Sklaverei brotlos und obdachlos gewordene Menschen beschreibt Euclides da Cunha als betrunkene Vagabunden und Verbrecher. Wie, so frage ich, konnten haltlose, miserable und berauschte Jammerlappen und Räuber jener ausgetrockneten Erde Lebensmittel abgewinnen um 25.000 Mäuler zu ernähren?

Es dürfte sich also bei Canudos weder um ein Sodom, noch um ein Gomorra gehandelt haben, sondern um eine nachahmenswerte Agrargemeinschaft! Ein landwirtschaftliches Kommunalprojekt, das wesentlich effizienter und produktiver war als alle benachbarten Ländereien und Liegenschaften zusammen.

Ein Beispiel unerwarteten Gelingens motivierter und gottesfürchtiger Arbeiter, das grenzenlosen Neid, lichterloh züngelnde Flammen der Eifersucht und stummen Hass weckte! Eine Missgunst, die bis in die Residenz der Gebietsvorsteher gelangte.

Der ostentative, wenn auch ungewöhnliche Wohlstand Canudos´ und der von Antônio Conselheiro angeführten Gläubigen war bald allen Reichen ein Dorn im Auge!

Ein Erfolg, der zum Verhängnis wurde! Ein weiterer und politischer Fehler Antônio Conselheiro´s, der es anfangs unterlassen hatte, die lokalen Machthaber und Besitzer der umliegenden Latifundien um Erlaubnis und den Klerus um seinen Segen zu bitten!

Dieser Kern „subversiver Monarchisten“ musste ausgelöscht werden!

Euclides da Cunha ignorierte die wahren Gründe die zum Völkermord führten! Er missachtete den Neid der Großgundbesitzer.

Antônio Conselheiro´s Weigerung, die Republik anzuerkennen und ihr Tribute zu zahlen war nur eine faule Ausrede und eine feige Verfälschung der Geschichte.

Sowohl in Canudos, als auch vierzig Jahre später in Crato, Ceará und im Caldeirão de Santa Cruz do Deserto und während der Regierung der Arbeiterpartei von 2003 bis 2014 und wo immer das arbeitende Volk die faule Elite übertrumpfte.

Jederzeit und sooft gemeinschaftliche Bemühungen aller Welt Zeugnis geben vom egoistischen Unvermögen der Oberschicht kommt es zu Kriegen.

Euclides da Cunha versäumte nicht nur das Ende des Holocausts, sondern eine hervorragende Chance, die dumme und verschwenderische Misswirtschaft der brasilianischen Elite ins rechte Licht zu rücken.

Mehr als zwei Drittel des Buches „Os Sertões“ vergeudet Euclides da Cunha mit nichts sagenden Beschreibungen blutiger Auseinandersetzungen. Wer „Os Sertões“ liest hat den Eindruck, einem Schmierentheater beizuwohnen.

Der peruanische Autor Mario Vargas Llosa benutzte das Werk von Euclides da Cunha um seinen Roman „Der Krieg am Ende der Welt“ zu schreiben. Eine „Estória“ aus zweiter Hand! Das hatte gerade noch gefehlt!

So springt man in Südamerika mit der Geschichte um.

Heute müsste jemand den Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Márques abkupfern und von „Zeiten des Covid-19“ berichten und wie es dem brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro gelang, wochenlang zu verbergen, dass auch er infiziert aus den USA zurückgekehrt ist.

Vielleicht war er tatsächlich das einzige nicht angesteckte Individuum der aus über zwanzig brasilianischen Politikern bestehenden Delegation.

Es fällt einem jedoch schwer, jemandem zu glauben, der wie Bolsonaro täglich die Unwahrheit sagt und wie gedruckt lügt.

Übrigens… wo habe ich denn erst unlängst und das allererste Mal das Wort „schreddern“ gehört?

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