Helena Adler: Fretten

Helena Adler

Helena Adler | Foto: Jung und Jung Verlag

Autorin: Helena Adler
Titel: Fretten
Verlag: ‎ Jung u. Jung;
ISBN-10‏: ‎ 3990272713
ISBN-13‏: ‎ 978-3990272718
Erschienen: August 2022

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Klappentext:

Dem Elternhaus ist sie mit knapper Not entkommen, da bemerkt sie, die jüngste Tochter des Pleitebauern: Der Provinz entkommt man nicht. Also schließt sie sich einer Bande von Vandalen und Störenfrieden an, die die Provinz in die nahe Stadt tragen, den Schlachthof plündern und in Tierkadavern Drogen schmuggeln. Sie tanzen und sie wüten, sie spielen mit ihren Leben, weil sie es gewohnt sind, zu verlieren. Die Party ist erst aus, wenn die nächste beginnt, das Motto lautet »Überleben«. Bis plötzlich nicht nur die eigene Existenz auf dem Spiel steht: Sie gebiert einen Sohn, den sie liebt wie einen Erlöser, und wird in dieser Liebe zu einem Scheusal im Kampf gegen die Sterblichkeit.

Fretten ist ein Bastard, ein Bankert, ein Mischling aus Lebensanklage und Liebeserklärung, gezeugt im Rausch der Verewigungssucht, im heiligen Zorn auf die Existenz und den Tod, geboren in Trümmern aus der Lust am Tabubruch. Es nennt beim Namen, was einen Namen hat, und zwar nicht zwischen den Zeilen, sondern Schwarz auf Schwarz, mit Sprachgewalt und einem Galgenhumor, dass einem die Luft wegbleibt.

Peter Reutterer

Rezension von Peter Reutterer

Ein weiterer Sieg

Helena Adler hat sich Zeit gelassen. Klüger als manch eine ihrer Zunftgenossinnen hat sie den zweiten Wurf sorgfältig vorbereitet. Und obwohl es keine Garantien für einen Erfolg gibt und man wohl auch diesen nur im Ansatz zu planen vermag, zeichnet sich ein zweiter Bestseller ab. Dabei war Helena Adler mit „Die Infantin trägt den Scheitel links“ nicht nur hinsichtlich der Verkaufszahlen beeindruckend erfolgreich, sondern auch in der Fachwelt hochgeschätzt. Kaum ist nun das Nachfolgewerk bei Jung und Jung erschienen (eigentlich ihr drittes Buch), kann der neue Literaturstar bereits Lobeshymnen seitens maßgeblicher Kulturjournalist*innen für sich geltend machen: Klaus Kastberger (Die Presse), Katja Gasser (ORF) und Björn Hayer (zeit.de) sind sich darin einig, dass „Fretten“ von jedem ernstzunehmenden Literaturinteressenten gelesen werden müsse und wie der erste Erfolg ein literarisches Ereignis darstelle.

Die Autorin bleibt ihrer Grundintention, aus der unmittelbaren Lebenswirklichkeit zu erzählen, treu. Als Leser der „Infantin“ fühlt man sich auf den ersten Seiten gleich zu Hause, wenn es um den elterlichen Bauernhof geht, wo sich „Airbags aus Mutterkuchen und Vaterbäuchen aufblähten“. Die Urheimat bekanntermaßen ambivalent, da lauern die Dorfbestien: Für sie war ich eine Möchtegernmadonna und sie beschimpften mich als Dreckaufwühlerin (Kapitel 20).Aber die Arbeit Adlers erschöpft sich nicht nur in Reprisen, sondern die Geschichte wird weitergesponnen: Zunächst werden pubertäre Erfahrungen und eskapistische Bemühungen in einer Jugendbande drastisch (u.a. in einem Schlachthaus) ausgebreitet, recht nachdrücklich öffnet sich dann ein neu tönender Lebensabschnitt mit der Geburt des eigenen Sohnes und einer besonderen Mutterliebe. Das alles in gewissenhaft strukturierten 21 Kapiteln, die wie im vorigen Buch die Namen von Kunstwerken -zwei von Bildern der Autorin- tragen. Damit verweist Helena Adler auf ihre bildnerische Begabung, die sie ebenso bei der Gestaltung des Umschlages eingebracht hat.

Der Zug zur unmittelbaren Lebenswirklichkeit ist so radikal wie im vorigen Buch. Ich wache auf im Kindskörper, im Inneren der alten Bauernbaracke, lautet der erste Satz, ein Grundaxiom dieser Literatur: Es geht rückhaltlos und mit größtem Einsatz um erlebte Wirklichkeit, und das in aller kreativen Sinnlichkeit, zu der Literatur fähig ist. Echte Kunst ist existenziell, heißt es im Kapitel „Ein Kanarienvogel unter Karnivoren“.

Naturgemäß ist diese Existenz, um deren Vermittlung es geht, sowohl Paradies als auch gewaltige Bedrohung. Im Kapitel „Das irdische Paradies“ werden nicht zuletzt die schönen Seiten einer Welt aufgeblättert, die der heimatliche Bauernhof auf dem kleinen Berg über dem Dorf bieten kann. Da sprudelt es vor Geschichten und Abenteuern, Farben und Gerüchen, ein Nährboden für Phantasie und Phantastisches. Das Urvertrauen steckte einem in allen Knochen. Doch gleichzeitig werden Ungeheuer geboren. Das bäuerliche Leben strotzt vor Brutalität und Dreck, der Tod ist allgegenwärtig, weil in der riesigen Sippe ständig jemand verkümmerte, siechte oder starb, Vieh oder Mensch, Kopf oder Zahl (Kapitel „Die Erfindung der Ungeheuer“).

Ein weiteres grundsätzliches Anliegen würde ich als Befreiung betiteln. So heißt es im Kapitel „Engelsturz“: Ich träume, dass deine Atemwege erst frei sein werden, wenn du über die Gräber deiner Familie steigst, wenn du dich von den Ängsten der Engsten befreist. Die Leitlinie des Befreiens dominiert nicht nur die Kapitel, die sich um den zwischendurch schwer erkrankten Sohn drehen, sondern ebenso deutlich die Szenen auf dem elterlichen Bauernhof und die Darstellung des jugendlichen Bandenlebens. Im Kapitel „Madonna mit Kind“ auf den Punkt gebracht: Die Tinte wurde zu meinem Wehrsekret. Ich rückte mir selbst auf den Pelz und ließ mir einen Panzerrücken wachsen, schmückte mich mit fremden Federn.

„für mein geliebtes Kind“ wird vor der Erzählung als Widmung von der Autorin deklariert. Die gesamte Erzählung liefert ein gewaltiges Zeugnis davon, wie ernst es der Erzählerin mit der Kindesliebe ist. So zeigt sich „Fretten“, obwohl es den biographischen Faden der „Infantin“ fortspinnt, gegenüber dem Vorläufer als ein neuartiges Buch. Denn mit dem Motiv der unverbrüchlichen Kindesliebe hat sich auch der Ton gewandelt. Dieser gibt sich trotz aller assoziativer, reimender, alliterierender, vor Metaphern sprudelnder Wortverspieltheit weniger aggressiv, was seine Qualität nicht mindert. Natürlich verzichtet die Autorin beim zweiten Wurf nicht darauf, alle Register ihres rhetorischen Virtuosentums zu ziehen. Ihre Fangemeinde wäre andernfalls wohl enttäuscht gewesen. Die emotionalen Passagen der Mutterliebe im Besonderen werden aber durch diesen Wortrausch nicht in ihrer Lebens- und Liebesnähe relativiert. Die Geburt des Sohnes ist der „Ursprung der Welt“ und auf berührende Weise das Epizentrum dieses autobiographischen Erzählens.

Entsprechend der so vielfältig oszillierenden Literatur von Adler, möchte ich kontrastiv zu dem bisher Geäußerten noch konstatieren, dass sich die Autorin immer wieder satirischen Spaß mit ihren Figuren und deren Welt erlaubt. Am deutlichsten wohl in dem Kapitel „Twenty Marilyns“, in dem die Gatterjagd im Gräberfeld aufs Korn genommen wird. Gemeint ist der alljährliche Aufmarsch zu Allerheiligen auf dem dörflichen Friedhof, und da lässt die Autorin wortwirbelnd dem Spaß am Spott über lächerlich gewordene Traditionen ihren Lauf.

Es war klug und richtig, sich mit dem Nachfolgewerk Zeit zu lassen. Mit „Fretten“ hat Helena Adler das zweite und entscheidende Match auf dem Turnierplatz der neueren Literatur gewonnen.


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