
Autorin: Elisabeth Reichart
Titel: Komm über den See – Roman
ISBN: 978-3-7013-1329-7
Verlag: Otto Müller Verlag
Erschienen: 18.02.2025
Klappentext:
Ruth Berger war zwar als Dolmetscherin in fremden Sprachen zu Hause, doch eine eigene Sprache findet sie nicht. Schon als Kind wurde sie zum Schweigen verdammt, und als erwachsene Frau verstummt sie immer wieder vor der Macht der Männer um sie herum. Nach gescheiterten Beziehungen und einer abgebrochenen Karriere ist sie allein mit ihrer Angst vor Nähe und Freundschaft, allein mit dem Verdacht, dass mit dem Verschwinden der weiblichen Stimmen die Ohnmacht der Frauen zementiert werden soll.
Ruth, nunmehr Lehrerin, übersiedelt für ein Jahr von Wien nach Gmunden. Dort ist sie ganz nah am Thema ihrer Recherchen, die sie seit Jahren nebenbei führt: Sie sammelt Akten über NS-Widerstandskämpferinnen im Salzkammergut, zu denen auch Anna Zach gehörte. Nach einem Gespräch mit dieser mutigen, inzwischen alten, aber ungebrochenen Frau versteht Ruth plötzlich ihre innere Fremde, versteht die Bedeutung von Schweigen und Verrat.
„Komm über den See“ verbindet Themenkreise, die seit Beginn an Elisabeth Reicharts Werk formen: Generationsübergreifendes Schweigen, Sprachlosigkeit und Verdrängen, aber auch weiblicher Widerstand gegen eine – immer noch – von Männern beherrschte Welt. Aufwühlend und zeitlos aktuell.

Rezension von Anna Lemberger
Als Ruth Berger ihre Arbeit als Aushilfslehrerin in Wien verliert, bricht ihr der Boden unter den Füßen weg. Während sie sich zu Hause immer weiter einigelt, verliert sie nicht nur ihre letzten Worte, sondern auch sich selbst.
Ihre Sprachlosigkeit wird durch Ängste und die Schatten der Vergangenheit noch verstärkt.
Einige Monate später erhält sie das Angebot, in einer Schule in Gmunden zu unterrichten. Sie spürt, dass etwas an dieser Stadt nicht stimmt, irgendetwas war dort. Als sie in einem Karton auf zahlreiche Briefe aus Gmunden stößt, kann sie sich nicht erklären, was diese zu bedeuten haben.
Trotz dieser Unklarheiten übersiedelt sie in die oberösterreichische Kleinstadt am Traunsee und versinkt weiter in ihrer Wort- und Sprachlosigkeit. Das Freundschaftsangebot einer Kollegin bringt sie zusätzlich an ihre Grenzen: Sie kann mit Nähe nichts anfangen, denn sie empfindet sie als bedrohlich.
Als sie schließlich auf der Suche nach Widerstandskämpferinnen aus der NS-Zeit auf die betagte Anna Zach trifft, muss sie sich ihren Geistern stellen – auch wenn diese nur schemenhaft in ihr Gedächtnis rücken.
Die Protagonistin ist eine verstörte Frau, die unter den Traumata früher Kindheitserlebnisse leidet. Doch diese liegen außerhalb ihres bewussten Erinnerungsvermögens und bleiben daher ungreifbar. Obwohl sie beruflich mit Sprache arbeitet, sind ihre eigenen Worte verschwunden.
Jahrelang hat sie an einem Mann festgehalten, der als Richter Menschen für Drogenmissbrauch verurteilte, dabei aber selbst ständig konsumierte. Männern und deren Dominanz steht sie hilflos gegenüber, mit Ausnahme ihres Bekannten Franz, der sie auf Augenhöhe behandelt.
Immer wieder hat sie Flashbacks, die sie nicht einordnen kann. Nazis in Uniform, die ihre Mutter blutig schlagen. Ein Name, der ihr bekannt vorkommt, ihr aber nichts sagt. All diese Erinnerungsfetzen bleiben brüchig und unzuordenbar. Auch vor Freundschaften hat sie Angst. Nähe bedeutet Bedrohung, denn mit ihr sind traumatische Erlebnisse verbunden.
Der Autorin gelingt es meisterhaft, die Sprachlosigkeit der Protagonistin auf den Leser zu übertragen. Selbst nach mehrmaligem Lesen bestimmter Passagen bleibt vieles schwer in Worte zu fassen. Reichart vermittelt viele Botschaften, die sich jedoch sehr unterschiedlich deuten lassen.
Der Buchtitel „Komm über den See“ könnte für einen Neubeginn stehen: „Komm rüber – und lass die Vergangenheit und ihre Geister hinter dir.“ Doch es geht keinesfalls darum, die Gräueltaten der NS-Zeit zu vergessen, sondern vielmehr darum, die Sprachlosigkeit, das Verdrängen und die Albträume zu überwinden, die diese hinterlassen haben.
Als Ruth schließlich Anna Zach gegenübersteht, bekommt der Name, der immer wieder als Erinnerungsfetzen in ihrem Kopf auftaucht, plötzlich eine Bedeutung, ebenso wie die Tatsache, dass sie erst mit vier Jahren getauft wurde.
Obwohl Reichart das Ende offen lässt, bringt sie am Schluss etwas mehr Klarheit in die Handlung. Doch vieles bleibt der Fantasie der Leser überlassen. Ein aufrüttelndes, aber auch verstörendes Buch, das viel erzählt und gleichzeitig vieles offenlässt – trotzdem absolut lesens- und empfehlenswert!

Sie schätzen die Buchkritiken in der Dorfzeitung?
Freunde helfen der Dorfzeitung durch ein Abo (=Mitgliedschaft)! Wir sind sehr stolz auf die Community, die uns unterstützt! Auf diese Weise ist es möglich, unabhängig zu bleiben.
Es gibt 2 einfache Wege, zum Freund der Dorfzeitung zu werden.
- Sie werden für ein Jahr ein außerordentliches Vereinsmitglied (enthält nur das Dorfzeitungs-Abo) des Herausgebervereins (Kulturverein Dorfzeitung KULTUR online) zum Jahrespreis von 54 €. Es ist dazu ihre E-Mail-Adresse und Postanschrift notwendig, damit wir die Rechnung für den Mitgliedsbeitrag schicken können. Nach Eingang der Zahlung bekommen Sie einen Steady-Gastzugang für 1 Jahr. Verlängerungen sind möglich. Kontaktformular >
- Ein weiterer Weg ist ein Direktabo via Steady, wie es im Folgenden beschrieben und angeboten wird.
INSERT_STEADY_CHECKOUT_HERE
Views: 15
Kommentar hinterlassen zu "Elisabeth Reichart: Komm über den See"