Franzobel: Hundert Wörter für Schnee

Franzobel

Franzobel | Foto: Hanser Literaturverlage © Julia Haimburger

Franzobel: Hundert Wörter für Schnee

Autor: Franzobel
Titel: Hundert Wörter für Schnee
Genre: Roman
Verlag: Zsolnay, Wien
ISBN-10 : ‎ 3552075437
ISBN-13 : ‎ 978-3552075436
Erschienen: 18. Februar 2025

Klappentext

Im Herbst 1897 bringt der US-amerikanische Entdecker und Abenteurer Robert Peary sechs Inughuit, so der Name der im Norden Grönlands lebenden Menschen, auf einem Dampfschiff nach New York. Untersucht sollen sie werden, vor allem aber ausgestellt und hergezeigt.

Vier von ihnen sterben schnell an Tuberkulose, einer wird zurückgebracht – der neunjährige Minik aber bleibt. Seine Geschichte – Taufe, Schule, betrügerischer Pflegevater, Flucht – sorgt für Schlagzeilen. In Franzobels Roman wird Minik nicht nur zum Spielball zwischen der zivilisierten amerikanischen Kultur und der angeblich primitiven eines Naturvolkes. Sein Schicksal ist ein Heldenlied auf den Überlebenskampf eines beinahe ausgestorbenen Volkes, das bewiesen hat, wie der Mensch selbst in der unwirtlichsten Gegend überleben kann.

Wolfgang Kauer

Buchrezension von Wolfgang Kauer

Ein historischer Roman, der sich vordergründig der amerikanischen Entdeckung der Arktis widmet, genauer dem medialen Wettstreit zwischen Frederick Albert Cook und Robert Peary um die vermeintliche Erstbegehung des Nordpols im Jahr 1909. Gemäß Klappentext stehen auch sechs von Peary zu Sensationszwecken 1897 in die USA verschleppte Inuit im Mittelpunkt, vor allem der Werdegang eines Inuit-Jungen namens Minik. Dieser titelgerechte Handlungsteil setzt erst nach mehr als 200 Seiten ein und basiert auf einer KI-gestützten Rohübersetzung des biografischen Romans Mennesket Minik (1888-1918) des Dänen Rolf Gilberg aus dem Jahr 1994.

Die Anfangskapitel in Franzobels Erzählversion konzentrieren sich auf eine tiefschürfende Charakterstudie von Pearys Ehefrau Josephine, geborene Dibitsch. Geschildert wird die Polarforscherin als an Lieblosigkeit ihres Ehepartners leidend, nicht ohne Hintergedanken Franzobels, wie wir sehen werden. Die historische Josephine Peary, die als erste weiße Frau in der Arktis überwinterte und dort gebar, dokumentierte auch als Erste die Inuit-Kultur, und zwar in dem 1893 erschienenen Buch My Arctic Journal – a Year among Ice-Fields and Eskimos.

Angeregt durch eine Bronzefigur des Inuitjungen Minik im Nationalmuseum Oslo hat Franzobel eine interessante und lesenswerte Thematik bekannt gemacht und sein Roman wurde mit positiven Kritiken überhäuft. Es ist in der Tat bewundernswert, wie er das Handwerk des Erzählens beherrscht, indem er alle nur möglichen Register seines Zettelkastens zieht und sowohl viele sprachlichen Varietäten als auch höchst Wissenswertes über die Mythologie der Inuit vermittelt.

Was seinen Stil von Schreibweisen anderer Autoren deutlich unterscheidet, ist nicht zuletzt der Einbau von comicartigen Lauten, was auch den Figuren, vor allem Jo(sephine), eine spielerische, unbeschwerte, sogar exaltierte Note verleiht, was auf Dauer allerdings nervt.

Irritierend sind häufige Schauplatzwechsel, weil sie sich selten an Kapitelgrenzen orientieren, sondern den Fließtext zerstückeln. Für Lesende bedeutet dies eine große Herausforderung, nicht zuletzt deswegen, weil sich anfangs unwesentliche Details erst über sehr weite Lesestrecken hinweg zu wesentlichen Informationen verdichten, sodass man bei raffendem Lesen ständig im Buch rückwärts blättern muss, um entgangenen Informationshappen nachzuspüren.

Ein Paradebeispiel dafür ist etwa die Charakterisierung der Meeresgöttin Sedna, die durch den Raub ihres irdischen Wohnsitzes, zwei der größten Meteoriten Grönlands, in die USA geraten ist. Ihr vermeintlicher Arbeitsauftrag bündelt den gesamten zweiten Teil des Buches lang den Erzählstrang. Von Lesenden jedoch können Sednas Aussehen und ihre Eigenschaften nur nach und nach erschlossen werden, erst am Ende des Buches, nach 500 Seiten, erfahren die Lesenden schließlich von jener Menschenfrau, die die Göttin einmal gewesen sein soll, und ihrem schicksalhaften Vaterkonflikt.  

Noch kein Kritiker hat bislang die außergewöhnliche Geschicklichkeit Franzobels bei der Wahl der Erzählperspektive gewürdigt. Weil man heute als alternder männlicher Schriftsteller das detailgetreue Aussehen des weiblichen Geschlechts keineswegs schildern darf, ohne einen Aufschrei an Entrüstung zu ernten und als „alter weißer Mann“ ausgegrenzt zu werden, bedient sich Franzobel dabei eines raffinierten perspektivischen Winkelzugs. Statt erotische Gefühle gegenüber weiblichen Reizen seinem Robert Peary zuzuschreiben, rückt er dessen Frau Josephine in den Mittelpunkt des erotischen Erlebens: Erst durch das Beobachten halbnackter grönländischer Näherinnen wird sie sich ihrer eigenen Sexualität bewusst. Diese sei durch puritanische Erziehung und durch die Vernachlässigung der „ehelichen Pflichten“ durch den ausschließlich an der Umsetzung seiner Entdeckerpläne interessierten Mann verschüttet gewesen und keime nun verspätet auf.

Auf diese Weise stilisiert Franzobel die Frau des Polarforschers zu einer Isolde Weißhand des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der ihr Peary-Tristan niemals nähergekommen sei als das Wasser beim Durchwaten eines Baches. Erst bei einer ganz seltenen „Turnübung“ entstehe dann das ersehnte Kind, eine Tochter.

Indem Josephines Blicke auf den entblößten Brüsten der nähenden Inuit-Frauen ruhen, nimmt sich Franzobel die unerhörte Ferve heraus, nördlichste Nacktheit bis ins allerletzte Detail zu verbalisieren. Dabei gelingt es ihm nicht zu verbergen, dass „unerhörte Eindrücke“, wie sie Johann Wolfgang von Goethe als Bedingung für novellistisches Schreiben vorausgesetzt hat, der Selektion (s)eines männlichen Auges entspringen. Eine Frau würde auf ganz andere Impressionen achten als auf die Größe von Nippeln, die Farbe ihrer Höfe, die Ausgestaltung der Vulven und die Verteilung der Schamhaare. Den Brüsten der Näherinnen verleiht der Autor gar die Fähigkeit, sich verbal zu äußern: Er lässt sie zum allgemeinen Anfassen auffordern! (vgl. S. 84-85) Man fühlt sich an die Stephansplatz-Aktion der Künstlerin Wally Export erinnert.

Franzobels zweckorientierter Perspektivenschwenk zum vermeintlich weiblichen sexuellen Erleben ist demnach ein geschickt eingesetzter Schachzug, feministischen Rezeptionistinnen schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln zu nehmen, für den Fall, dass sie gegen die unverfroren männliche Sicht vom weiblichen Körper auf die Barrikaden stiegen. Dieses heuchlerische Umgehen zeitgemäßer Moral könnte nicht nur epigonale Folgen haben, sondern es wäre ebenso wert, als solches in der Literaturgeschichte vermerkt zu werden, ebenso seine Erfindung sprechender Brüste. Konsequent schildert Franzobel erotisches Fühlen selbst dann noch aus dem Blickwinkel der eifersüchtigen Ehefrau, als Robert Peary im zweiten Teil des Romans die (vermeintlichen) Anzüglichkeiten eines zehnjährigen Inuit-Mädchens namens Aleqasina unter dem Vorwand „ethnischer Dokumentation“ auf Zelluloid bannt. Bei seiner Wiederkehr Jahre später würde er ihr zwei blauäugige Jungs zeugen, um die er sich jedoch danach nicht weiter kümmern würde. Die Lesenden erfahren alles nur durch Josephines Reflexion und aus einem Nachwort des Autors über die historischen Hintergründe.

Die peinlich anmutende Nabelschau bei ausschließlich grönländischen Menschen könnte aber auch von anderen kritischen Lesenden unwillkürlich mit jenen herabwürdigenden ethnografischen Bildbänden in Verbindung gebracht werden, mit denen Ende des 19. Jahrhunderts die Erotikerwartungen einer männlichen Leserschaft gestillt wurden. Gefallsüchtige Schreiberlinge stilisierten damals weibliche „Nacktheit bei fremden Völkern“ zum Kuriosum hoch, und dies unter dem Vorwand von Wissenschaftlichkeit.

Bei seinen umfangreichen Recherchen könnten dem Romancier solche „ethnischen Dokumentationen“ untergekommen sein. Wie denn auch das Bild vom Alltag in Grönland eher einer ähnlich gearteten „Kulturkunde“ entlehnt scheint, wenn sich etwa die Arktisforscher recht unbefangen waffenlos zwischen ihrem abgelegenen Haus und dem Dorf hin und her bewegen und die permanente Gefahr einer Eisbärenattacke ignorieren. Ohne im Kajak eine Schusswaffe mitzuführen, würde angesichts der auf Beute wartenden Bären damals wie heute suizidalem Verhalten gleichkommen. Als Grönlandreisendem fehlen mir persönlich auch Hinweise auf die Dominanz des Modergeruchs im Inneren von Erdziegelhäusern, der Schweißgeruch von Füßen, wie ihn Franzobel bei schlafenden Stiefelträgerinnen diagnostiziert, bei Weitem überdecken würde.

Der Autor liegt auch bei der Behauptung falsch, es gäbe in Grönland keine Bäume und die Inuit würden solche erst in den USA kennengelernt haben. Die Verbreitung kleinwüchsiger Birken entlang des grönländischen Küstenstreifens beweist das Gegenteil. Gleiches gilt für das vermeintliche Fehlen von Blumen auf der Insel. Natürlich leuchten grönländische Wiesen anders in der Sonne als jene im Central Park, aber Blumenwiesen gibt es genauso an Grönlands Küsten, wenngleich in geringerer Dauer aufgrund der kurzen Vegetationsperioden. 

Allzu auffällig oft sieht Franzobel den „Frauentausch“ im Vordergrund. Mit voyeuristischer Begeisterung ergeht er sich immer wieder in der Schilderung lockerer Sitten, ohne sich bewusst zu machen, dass eine solche thematische Selektion lesende Männer von heute mehr abstößt als unterhält, noch dazu, wenn die Schilderungen dermaßen zu gesellschaftlicher Verallgemeinerung hinführen, ganz im Sinne der antiquierten wie abzulehnenden ethnografischen Sichtweise des Fin de Siecle, nach deren Motto: „Schaut her, wie kurios es bei den Eskimos zugeht!“ Einer ganzen Ethnie unterstellt der Autor das Triebverhalten von Hasen und macht die unter Grönländern nur in Ausnahmefällen praktizierte freie Liebe zu deren Erkennungsmerkmal.

Durch eine solche Typisierung läuft der Roman Gefahr, sich als „Völkerschau“ zu entpuppen, was letztendlich bedeutet, dass sich der Autor nicht von der sensationsheischenden Berichterstattung fragwürdiger, antiquierter Quellen zu lösen vermochte.

Im Vergleich zu Josephine Peary wirkt ihr Ehemann weniger überzeugend, denn der Autor legt den Polarforscher wenig differenziert an, als einen verrückten Fitzcarraldo des Nordens halt. In Werner Herzogs Fahrwasser segelnd stellt Franzobel Robert Pearys konsequente Vorbereitungen zu Polarexpeditionen bloß als übertrieben fanatisch dar. Wie denn die Hyperbel überhaupt des Autors Lieblingsfigur zu sein scheint, angelehnt an den Stil von Gabriel Garcia Màrquez in Hundert Jahre Einsamkeit.

Der zweite Teil des Romans thematisiert den historisch belegten Umerziehungsweg des im Alter von 9 Jahren verschleppten Inuitjungen Minik in der Neuen Welt. Es beginnt mit dessen berechtigten Verhaltensauffälligkeiten in einer New Yorker Schule, bedingt durch Missverständnisse aufgrund kultureller Differenzen mit dem Puritanismus, und endet mit seiner Rückkehr nach Grönland, wo er mit der Zivilisationslast als „entwurzelter“ Erwachsener zum Scheitern verurteilt ist, nicht nur als Jäger und Expeditionsleiter, sondern genauso als zu maßvoller Ehemann.

Ein selten tragisches Moment begegnet gegen Ende des Romans hin. Miniks in den USA verstorbener Vater Qisuk ist dort ganz offiziell erdbestattet worden, in Gegenwart seines Sohnes. Aber Miniks halbkrimineller Stiefvater William Wallace exhumiert den Leichnam und entfleischt ihn mit Chemikalien, um das Skelett an seinem Arbeitsplatz, dem American Museum of Natural History, als Unikum ausstellen zu können. Als Minik davon erfährt, schafft er es trotz zahlreicher Eingaben nicht, die Rückgabe des Leichnams zu erreichen. Mit leeren Händen und zivilisationsmüde kehrt er auf die Insel zurück, denn er kann dem Vater keine ewige Wohnstätte in der Heimat errichten, in Gestalt eines Tumulus aus Steinen. Umso tragischer, dass er auch von seinen Landsleuten nicht mehr aufgenommen wird.

Genauso wenig ist es dem Heimkehrer gelungen, den über die Schamanin Atangana erteilten Auftrag der Meeresgöttin auszuführen, Grönlands größte Meteoriten, die von Peary geraubten „heiligen Steine“, aus den Staaten auf die Insel zurückzubringen. Auch Miniks zweiter Besuch in den USA kann nichts mehr daran ändern.

Die historische Realität: Erst im Jahr 1993, 75 Jahre nach Miniks Tod, wurden die Skelette aller in die USA verschleppten und dort verstorbenen Grönländer, darunter Miniks Vater, tatsächlich auf die Insel rückgeholt, erhielten jedoch nicht die traditionelle, sondern eine christliche Beerdigung auf dem Friedhof von Qaanaaq.    

Franzobels umfangreicher und am Ende sehr spannender Roman mündet schlussendlich in Kapitalismuskritik an gesellschaftlichen Veränderungen, die Grönland noch bevorstehen, im Wesentlichen verursacht durch christliche Missionierung, ausländische Gier nach Bodenschätzen und fremdstaatliches Interesse an strategischer Positionierung. Das Begehr des gegenwärtigen US-Präsidenten, die Insel notfalls gewaltsam einzunehmen, bestätigt Franzobels Überlegungen mehr denn je und rückt die Insel – nach hundertjähriger medialer Vernachlässigung – abermals ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. So entsteht allgemeiner Informationsbedarf, der dem Verkauf des Buches zugutekommen dürfte, informiert doch Franzobels jüngstes Opus Magnus zur rechten Zeit über den rechten Ort! 


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