Von Sinn und Unsinn einer notwendigen, missverstandenen Debatte
Die Cancel Culture-Diskussion um „political correctness“ geht in die nächste Runde. Nun hat es Karl May erwischt. Der Ravensburger-Verlag zieht zwei Kinderbücher zurück, die zeitgleich zum Film „Der junge Winnetou“ erscheinen sollten.
Von Tomas Friedmann
Literaturhaus Salzburg
Ravensburger reagiert damit auf kritische Stimmen im Internet, die dem Verlag vorgeworfen hatten, in den Büchern rassistische Stereotype über die Ureinwohner Nordamerikas wiederzugeben. Auch der Vorwurf der kulturellen Aneignung steht im Raum, also die Übernahme von Merkmalen der Kultur der Ureinwohner. Und es würden Klischees bedient. Oh, ganz was Neues! Wusste man bisher – außerhalb von Hollywood – nicht, dass Charaktere, Figuren und Helden in Romanen, Stücken, Filmen u.a. Werken (meist) fiktiv, erfunden und überzeichnet sind?
Man darf mit entsprechenden Hinweisen (z.B. bei Büchern, in Museen) erwarten, dass Menschen eine Eigenverantwortung tragen, selbst entscheiden können, was wem wie und warum zumutbar ist. Das gehört im Elternhaus, in der Schule, in Medien, bei Veranstaltungen etc. thematisiert. Missstände – dazu zählen u.a. beleidigende, rassistische, diskriminierende, antisemitische, frauenfeindliche und homophobe Äußerungen – aufzuzeigen ist richtig, ein kritisches Bewusstsein wichtig. Aber Kultur, Gesprochenes, Geschriebenes und Geschehenes, kann nicht storniert werden. Kriege, Krankheiten und Krisen verschwinden ja auch nicht, wenn man sie aus dem Gedächtnis zu streichen versucht. Man sollte aufmerksam sein, differenzieren und miteinander reden (z.B. was so politisch, ökonomisch, ökologisch falsch läuft) – und vor allem jetzt notwendige Taten setzen, um die Welt besser und gerechter zu gestalten. Da geht es z.B. um Klima, Gesundheit, Arbeit, Bildung, Demokratie, Vermögensverteilung, Frieden und Solidarität. Das ist herausfordernd, durchaus anstrengend. Aber es ist eben alles nicht so einfach, wie schon Barack Obama wusste: „Es gibt Mehrdeutigkeiten. Menschen, die wirklich gute Sachen machen, haben Schwächen. Menschen, die ihr bekämpft, lieben vielleicht ihre Kinder und teilen bestimmte Dinge mit euch.“
Also: Eine abgekühlt-kritische Diskussion – auch über Kunst und Künstler*innen – ist grundsätzlich sinnvoll. Doch nachträglich Werke von Shakespeare, Astrid Lindgren usw. umzudichten, ist kindischer Unsinn. Verbote, (Selbst)Zensur, das (nachträgliche) Ausradieren kultureller Ereignisse sind dumm und gefährlich. Denn eine aufgeregte Cancel Culture-Debatte hilft nicht der Sache, sondern leider wohl nur rechten Trittbrettfahrern, die daraus populistisch politisches Kapital schlagen wollen. Kein guter Dienst in einer ohnedies aufgeheizten Zeit.
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Man muss nicht alles verstehen!