
Autor: Israel Bercovici
Titel: Hundert Jahre Jüdisches Theater in Rumänien (1876-1976)
Originaltitel : O sută de ani de teatru evreiesc în România
Aus dem Rumänischen übersetzt von Maria Herlo
Genre: Geschichte/Kulturgeschichte
ISBN-10: 3938344555
ISBN-13: 978-3938344552
Verlag: WaRo Verlag, Heidelberg
Erscheinungstermin. 30. Oktober 2024
Klappentext:
In dem hier vorliegenden Band breitet Israil Bercovici sowohl aus eigenem Erleben als auch aus künstlerischer und wissenschaftlicher Beschäftigung gekonnt ein Panorama aus, welches über das rumänische jiddische Theater hinausreicht. Das Buch ist zunächst 1976 unter dem Titel „Hundert jor yiddish teater in rumenie 1876 – 1976“ im Kriterion Verlag, Bukarest, in jiddischer Sprache erschienen. 1982 veröffentlichte derselbe Verlag die rumänische Fassung „O sută de ani de teatru evreiesc în România“. Der erfreulicher Weise nun vorliegenden deutschsprachigen Version in der Übersetzung von der in der Kulturvermittlung sehr engagierten Maria Herlo ist eine geneigte Leserschaft und eine Verbreitung über ein Fachpublikum hinaus zu wünschen.
Joachim Hemmerle, war dreieinhalb Jahrzehnte bei der Tageszeitung „Mannheimer Morgen“ als Redakteur, Ressort Kultur, tätig.

Buchrezension von Wolfgang Kauer
Ein interessantes Buch über die Entwicklung jüdischen Bühnenspiels in Mittel- und Osteuropa wurde endlich ins Deutsche übertragen. Die Entstehung eines jüdischen/jiddischen Theaters im Osten Europas verlief ganz ähnlich wie die Entstehung des deutschsprachigen Theaters. Noch viel ältere Wurzeln reichen bis nach Babylon.
Im Gegensatz zur griechischen Theatergenese im Rahmen des unmoralischen Kultes zu Ehren des Fruchtbarkeitsgottes Dionysos war die Entstehung des jüdischen Theaters aus dem Kultisch-Religiösen heraus wegen der ernsthaften Devotheit gegenüber Gott Jehova nicht möglich.
In der Bibel finden sich die zarten Wurzeln jüdischen Theaters vielmehr in den an Jehova gerichteten religiösen Erntedankliedern und Tänzen jüdischer Frauen, unter Leitung der Prophetin Mirjam. Sie bildeten die Keimzelle für spätere Theaterstücke. Die fröhlichen antiken Wechselgesänge in Zusammenhang mit der Arbeit auf Feldern und in Weinbergen bekamen erst mit der Zeit einen streng national-religiösen Charakter, indem sie sich zu Psalmen entwickelten, also Lobgesängen der Leviten im Tempel. (S.37)
Weil religiöse Gesänge im Alltag auf Priester und Leviten beschränkt blieben, fand das Volk nur bei Festen Gelegenheit, für kurze Zeit zu religiösen Akteuren zu werden. Beim Fest der Freude und der Zelte, weil die Israeliten während ihrer babylonischen Gefangenschaft in Zelten gewohnt hatten, führte man im Tempel einen spektakulären Fackeltanz auf, verbunden mit dem Gesang weiser Sprüche in Chören. Ähnlich wie bei den Anfängen des griechischen Theaters wurden hier die Dialoge zwischen verschiedenen Chorgruppen und einem Chorleiter gesungen, dem „Menazeah“, bei den Griechen „Koryphäe“ genannt (S.39). Ein Chor von Frauen etwa begrüßte die Sieger nach gewonnener Schlacht mit dem Lobpreis Davids, der Goliath besiegte.
Beim Pessachfest zur Osterzeit hörte man Liebeslieder in Wechselgesängen, weil das „Hohelied“ einen doppelten Frühling kennt, den periodischen der Regeneration der Pflanzenwelt und jenen einzigartigen Frühling, der in zwei Herzen erblüht.
Die beiden schönsten Feste waren das Ende der Holzbringungsarbeiten am letzten Tag des Sommermonats Av und der Versöhnungstag Jom Kippur im September/Oktober. Da wurde einer von zwei Ziegenböcken für Jehova geschlachtet und der andere – mit den Sünden aller Anwesenden beladen – zu Asael, dem gehörnten alten Fruchtbarkeitsgott, hinaus in die Wüste geschickt. Asael zu Ehren tanzten dann die Mädchen in Weiß gekleidet und singend durch die Weinberge, wobei sie die Burschen zu Hochzeitsideen anstachelten. Das Adventspiel des Jahres 2024 im Salzburger Festspielhaus scheint diese Szenerie in überzeugender Weise entlehnt zu haben.
Weil Gott Jahwe aus religiösem Respekt nicht dargestellt werden durfte, beschränkte man sich zunächst auf die szenische Ausarbeitung von Legenden auf Basis der Bibel in Dialogform, etwa auf Dialoge mit dem auf seinem Thron sitzenden weisen Salomon. Man verwendete dabei die gereimte Prosa arabischer Literatur.
Historische Zeugnisse belegen jüdisches Volkstheater bereits im 4. Jahrhundert, unter hellenistischem Einfluss und mit antagonistisch angelegten Charakteren, wie etwa Gläubiger und Ketzer, Tag und Nacht, Mann und Frau, Schwert und Feder etc.
Am Purim-Festtag zur Errettung vor geplantem Massenmord an Juden durch den persischen Großwesir Haman wurden im Februar/März Szenen aus dem Buch Esther nachgespielt. Schon in Babylon hatten Burschen den Großwesir Haman als Puppe auf den Dachfirst gesetzt und zu Purim heruntergeholt und verbrannt. Im Jahr 408 wurde dieses Spiel von Kaiser Theodosius II. verboten, doch kaum jemand hielt sich daran und so wurde die Haman-Puppe weiterhin gehenkt, verspottet und verbrannt.
In Osteuropa und in den Ghettos deutscher Städte des 16. Jahrhunderts wurden die weit verbreiteten „Purim-Spiele“ zunehmend mit Lokal- und Zeitkolorit angereichert. Auftritte gab es hauptsächlich bei Familienfeiern, zu Hochzeiten und natürlich an Purim. Kostümierte zogen dann von Stadt zu Stadt und äußerten sich in Dialogen, Instrumentalmusik, Liedern, Tanz, Pantomime und Geschicklichkeitsdarbietungen. In dem beliebten Stück „Totentanz“ waren alle gesellschaftlichen Schichten vertreten: Kaiser, Kardinal, Fürst, Erzbischof, Bischof, Arzt, Rabbi und Priester, Pfandleiher und Schuldner, Rabbi und Priester. Sie alle traten gegen den Tod an.
Im 17. Jahrhundert bekam Mordechai, jener Mitbürger, der im Buch Esther die Juden rettet, ein Narrenkostüm verpasst und machte ironisch-satirische Anspielungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, mit dem Ergebnis, dass die Purimspiel-Texte öffentlich verbrannt wurden.
Im 18. Jahrhundert entwickelten sich breit angelegte weltliche Satiren, die mit dem Buch Esther nicht mehr viel gemeinsam hatten. Daher wurde nun nicht mehr in der Synagoge gespielt, sondern in deren Hof. Wie später im Kabarett traten Purim-Spieler auch einzeln vors Publikum, als eine Art Minnesänger, wie etwa die Dynastie der „Brodersinger“ aus der galizischen Stadt Brody (S.57).
Selten durfte man vor Regenten auftreten, doch vom Bojaren von Moldawien wurde einmal eine reine Frauentruppe an seinen Hof eingeladen. Als Gesellschaftssatire geriet das Stück über die Legende von Esther dennoch auf die schwarze Liste verbotener Bücher. In Frankfurt wurde es sogar Opfer einer Bücherverbrennung.
1830 bis 1840 gab es zwar in Galizien ein erstes professionelles jüdisches Volkstheater, 1838 auch in Warschau, beide lösten sich aber wieder auf, weil die Umstände dafür noch nicht reif waren. Erst der Führungspersönlichkeit Abraham Goldfaden (1840-1908) gelang es 1876, im moldawischen Jassy ein dauerhaftes Jüdisches Theater zu etablieren, aus dem später das Jüdische Staatstheater Bukarest hervorging, das nach Jahren der Repression dem jüdischen Theaterschaffen einen Neustart ermöglichte und wo Israel Bercovici, der Autor dieses Buches, ab 1955 als Schriftsteller und Regisseur tätig war. Goldfaden machte das Jiddische Theaterspiel auch international bekannt, indem er mit seiner Truppe Gastspiele in Russland, Polen, Frankreich und Großbritannien bestritt.
Die Bühnensprache war Jiddisch, eine Mischsprache, die sich im 11. Jahrhundert in Deutschland aus dem Mittelhochdeutschen und dem Hebräischen gebildet und sich in Polen und Rumänien zur Literatursprache vervollkommnet hatte (S.35). Das Publikum rekrutierte sich vorwiegend aus hohen Offizieren und russischen Kaufleuten, die auf der Heimreise nach Moskau in einer moldawischen oder galizischen Stadt, wie Brody, übernachteten. Durch Goldfadens Initiative erreichte das Purim-Spiel auch die Vereinigten Staaten, wo es große Erfolge feiern durfte. Bei Goldfadens New Yorker Begräbnis bildeten 75.000 Menschen den Trauerzug.
Die vorliegende Monografie von Israel Bercovici bietet – neben dem geschichtlichen Abriss der Theaterentwicklung – nicht wenig interessante Biografien rumänischer Purim-Sänger und Theaterleute der Jahre 1876-1976. Seltene Fotos verleihen dem von Maria Herlo vorzüglich vom Rumänischen ins Deutsche übersetzten Text zusätzlich Lebendigkeit.

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