Tod der Königin könnte Zerfall von Great Britain & Commenwealth beschleunigen
Queen Elisabeth II. ist also im Alter von 96 Jahren und nach 70 Jahren disziplinierter Regentschaft friedlich auf ihrem schottischen Schloss gestorben – und Massenmedien, die an der königlichen Seifenoper lüstern mitnaschen, überschlagen sich, Menschen weinen fernsehreif um diese populäre Intergrationsfigur, die ganze Welt scheint Kopf zu stehen.
Von Tomas Friedmann
Naja, die ganze Welt ist übertrieben, denn etwa afrikanische Flüchtlinge, bedrohte afghanische Frauen, verfolgte Chinesinnen, eingesperrte Journalistinnen und Oppositionspolitiker*innen in Russland und Menschen im umkämpften Osten der Ukraine haben gewiss andere Sorgen und Probleme. Ganz zu schweigen von den über 5 Millionen Kindern unter 5 Jahren, die – vor allem in Afrika und Asien – jedes Jahr sterben, weil es an Nahrung, Trinkwasser und Impfungen gegen Krankheiten fehlt, weil die hygienische und medizinische Versorgung unzureichend ist.
Historische Verantwortung
Unter den betroffenen Ländern, die unter Klimawandel, Krisen und Kriegen mehr als alle anderen leiden, sind auch ehemalige britische Kolonien, die lange Zeit ökonomisch ausgebeutet und deren Freiheitsbestreben oftmals brutal unterdrückt wurden. Die weltweite Vorherrschaft der englischen Sprache blieb, kein Wunder, regierte London doch vor 100 Jahren noch ein Viertel der ganzen Welt. Freilich wurde im Auftrag der Krone auch geforscht (und gestohlen) sowie (eigennützig) in Infrastruktur investiert, was manchen Ländern später zugute kam; doch wer etwas im britischen Weltreich werden wollte, musste Englisch lernen und die britische Kultur inhalieren. Das haben viele bis heute nicht vergessen, daran ändern (romantische) Trips der Königsfamilie, Militärparaden und üppige royale Empfänge nichts. Die Nachfolgerinnen des britischen Empire tragen eine Portion Mitschuld an manch verheerenden Zuständen in der Welt, kein Herrscherinnen-Haus ist unschuldig.
Finstere Kolonial-Kapitel
Freilich kann man die vielen unvorstellbar-grausamen Kolonial-Verbrechen nicht der verstorbenen Elisabeth II. (1926-2022) in die Schuhe schieben, bestieg sie den Thron doch erst 1952. Beim kenianischen Freiheitskampf gegen das britische Militär war sie jedoch bereits Königin. Von den dokumentierten Ermordungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen tausender Kämpfer*innen allein im Mau-Mau-Aufstand 1956 in Kenia sollte sie gewusst haben. Rund 90.000 Menschen wurden dort während des britischen Ausnahmezustands inhaftiert. Die kenianische Freiheitskämpferin Miriam Muthoni Mathenge – sie wurde während des Unabhängigkeitskampfes von der britischen Herrschaft mit Äxten gefoltert – forderte noch vor Kurzem von der Queen eine Entschädigung. Gab es die? Hat sich die Königin jemals im Namen der britischen Krone entschuldigt? Was wurde aus der von GB blockierten Klage ehemaliger karibischer Kolonien für finanzielle Entschädigung für vier Jahrhunderte Sklaverei?
Einfluss, Macht, Geld
Britische Unternehmen kontrollieren auch heute noch in Afrika Rohstoffe wie Gold, Diamanten, Gas und Öl im Wert von mehr als 1 Billion US-Dollars (wie die britische Zeitung The Guardian schreibt). Die – blutige – Spur des Kolonialismus ist nicht verschwunden, Aus- und Nachwirkungen gibt es bis jetzt. Die Briten haben die Welt nicht nur – um etwas Positives zu sagen – mit Sportarten wie Fußball, Tennis oder Golf beeinflusst und wesentlich an der Befreiung von Nazi-Deutschland beigetragen, sondern – negativ – politische Grenzen (z.B. in Kaschmir, Nigeria, Palästina) gezogen, die zu Konflikten führ(t)en, Migrationsströme verursach(t)en und mit der (protestantischen) Besiedelungspolitik Irlands den Nordirland-Konflikt zu verantworten. Das alles nur der IRA und (katholischen) Terrorist*innen anzudichten, ist billige Verdrehung. Und 1969, am Beginn des Nordirland-Konflikts, der bis 1998 dauerte, war die Queen bereits 17 Jahre im Amt.
Tragisch Traditionsbewusst
Es gibt eine historische und eine moralische Verantwortung, die auch Königin Elisabeths 73-jähriger Sohn, der neue König Charles III., als Oberhaupt des Commenwealth wahrzunehmen hat, selbst wenn die Macht des Königs (heute) realpolitisch gering ist und die repräsentativen Aufgaben überwiegen. Übrigens kostet das natürlich auch etwas, nicht umsonst galt Elisabeth II. als eine der reichsten Frauen. Das Privatvermögen der Queen wurde mit 460 Milllion Euro beziffert – wahrscheinlich inklusive ca. 100 Millionen Aktienanteilen an Unternehmen, aber exklusive Immobilien, Schlösser, Autos etc. Verwaltet wird das Vermögen vom “Crown Estate”, einer Art Fonds, auf den die Königin bzw. der König keinen direkten Zugriff haben, sondern nur rund 15 Prozent als “Entlohnung” erhalten. Die Öffentlichkeit scheint kaum zu stören, dass die Königsfamilie jährlich ca. 90 Millionen Euro aus Steuermitteln erhält, wie Umfragen zeigen. Denn die konservativen, traditionsbewussten Britinnen und Briten bevorzugen immer noch mehrheitlich die Monarchie – und wollen keine Republik. Kein Wunder: Es sind die Märchen und Geschichten, die viele ablenken und bewegen, auch – und vielleicht besonders dann – wenn sie mitunter tragisch sind.
Vielleicht der letzte König
Sind ein Königreich Großbritannien, das dem British Empire nachtrauert, und ein Commenwealth of Nations (als Zusammenschluss von großteils ehemaligen britischen Kolonien) zeitgemäß und den Aufgaben der Gegenwart und Zukunft gewachsen? Oder ist der Zerfall unaufhaltbar? Was der unsinnige Brexit mit gelogenen Versprechungen (noch) nicht geschafft hat, könnte sich angesichts von Krisen, Unabhängigkeitsbetrebungen und Armut im eigenen Land – und darüber hinaus – nach dem Tod der Queen rasch beschleunigen.
Immerhin wissen wir nun – nach den Klatsch-Berichten in allen Zeitungen und Magazinen, auf allen TV-Kanälen und Radiosendern sowie natürlich im Netz –, dass die resolute Queen, die ob ihrer oft bewiesenen Haltung durchaus Respekt verdient, nicht nur über ein Dutzend Premierminister*innen in der Londoner Dowing Street 10 überlebt hat, sondern auch Ukulele gespielt und Sudoku in Windeseile gelöst haben soll, dass sie Hunde und Pferde liebte und (angeblich) Bier in 11 Sprachen bestellen sowie – seit sie während des 2. Weltkriegs in der Frauenabteilung der britischen Armee arbeitete – selbst Autos reparieren konnte. Das soll ihr der – hoffentlich weiterhin grünbewegte – Charles erst mal nachmachen. Vielleicht wären das seine letzten Erfolge als König.
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