In den ersten Tagen, Wochen und Jahren nach der Ankunft im neuen Land fühlt sich der aus Mitteleuropa stammende Immigrant, als wäre er mit dem Schachbrett unterm Arm in einen Freistil-Zwinger geraten.
Von Reinhard Lackinger
Die Spielregeln, so fern es sie gibt, sind flexibel, Schieds- und Punkterichter parteiisch. Wenn schon kein erklärter und ostensiver Fremdenhass, dann doch ein wenig Neid. Auch wenn es nichts zu beneiden gibt.
Diese Missgunst entspringt einer vermeintlichen Bedeutungslosigkeit. Recht geschieht es diesem Gringo! Was hat er hier verloren…! Anderen wiederum ergeht es wie einem Kerl, der auf einer Spazierfahrt durch die Parkanlagen eines Kurortes mit Planierraupe oder Panzer unterwegs ist. Womöglich mit Klima-und Stereoanlage. Bezahlt mit Geld, das er in der Heimat schuldig blieb. Bei Freunden, Verwandten, beim Finanzamt, bei der Justiz.
Der Gedanke an Gulliver liegt jedenfalls nahe. Bei allen Fremden. Besonders in der ersten Zeit und in einem möglichst exotischen Ausland. Da erscheinen dem ahnungslosen Immigranten die Schwierigkeiten der neuen Umwelt einmal wie Zwerge, ein anderes Mal wie Riesen. Auch Yahoos und andere fabelhafte Wesen gesellen sich mitunter dazu. Figuren, wie die plötzlich aus dem Nichts hervorschnellenden Fratzen und Gestalten einer Geisterbahn.
Diese Betroffenheit sehe ich im Gesichtsausdruck derjenigen, die sich heute in ihrer neuen Heimat zu orientieren versuchen.
Als ich 1969 als Entwicklungshelfer nach Brasilien kam, flohen gerade viele vor der Militärdiktatur nach Chile, nach Schweden, nach Cuba. Später, nach der ersten Energiekrise, vor der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit und dem Monster der Inflation nach Nordamerika, nach Europa. Jetzt kommt ein Teil davon wieder zurück.
Friedel Peinhopf flüchtete vor der Arbeitslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg nach São Paulo. Jandir Crestanis Urgroßeltern flohen 1878 vor dem Hunger im Trentin nach Südbrasilien. Helga Bürgers Vorfahren bereits1825 aus Pommern. Adler, Feinstein, Rabinowitz und viele andere Juden kamen in den Jahren 1930 nach Südamerika. Bruno Tittel und alle anderen Seeleute der Deutschen Handelsmarine, deren Schiffe während des Krieges zufällig an der Küste Brasiliens vor Anker lagen, wurden festgenommen. Viele davon, nachdem sie ihre Freiheit wieder genießen durften, zoge…
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