
Autor: Peter Handke
Titel: Schnee von gestern, Schnee von morgen
ISBN: 978-3-518-43225-9
Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 13.01.2025
Klappentext:
Im Gehen trägt er zusammen, was ihm begegnet, Tag für Tag, Schritt für Schritt: zwei Raben zu seinen Füßen, ein angebissener Apfel am Wegrand, der Fliegenschwarm, »der auf der Stelle fliegt«. Dazwischen Gedanken an den durch Weltgeschehen und -geschichte irrenden Odysseus, Erinnerungen an die Schlange am Kindswaldrand, der Klang der Regentropfen im Laub, das Bild der Wolkenschatten. Dann das »Lachen von Kindern am Horizont«, ihr ausgelassenes Spiel, das den Krach am Straßenrand übertönt. Dort findet er den Frieden, den es nicht gibt, »im Mundschwung des Kindes, dort herrscht er«. Bis der eine, der da unentwegt spricht, aufbricht und ein anderer kommentiert: »Angeblich soll er vor einiger Zeit noch gesehen worden sein, als letzter Fahrgast hinten zusammengekauert im allerletzten Nachtbus.«
Schnee von gestern, Schnee von morgen ist ein Stück für die Bühne, ein Drama ohne Rednerwechsel, ein Lied ohne Kehrvers. Als ob Peter Handkes Figur sprechend und singend versucht, sich in die Stille einzuhören, also zugleich wegzuhören, Welt und Welterfahrung gerecht zu werden. Der Sprecher fällt sich selbst ins Wort, setzt neu an, und er sammelt nicht nur auf, was ihm im Gehen begegnet, sondern folgt auch den »Nachbildern bei geschlossenen Augen«.

Buchrezension von Wolfgang Kauer
Der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler ist von Anbeginn ein rastloser „Wanderer“ im Sinne Wilhelm Müllers, der außerhalb der Gemeinschaft stehend nach menschlicher Zuwendung sucht: „Die sich von Kopf bis Fuß erhaben geben über die Andern: nichts Affigeres!“ (S. 50). Sein Bewusstseinsstrom startet unkonventionell bereits innerhalb eines dem Fließtext vorangestellten Tschechow-Zitats, das am Steppenwanderer eine Vorgeschichte an Einsamkeit vorwegnimmt, die sich später zwischen die Zeilen des Büchleins ausbreitet: das Schicksal des Außenseiters.
Aber zurück zum Anfang, der kein Anfang ist: Der „Alleingeher“ (S. 28), der sich nirgendwo anders einzunisten Lust hatte als in seinem Zuhause, beklagt seine Einsamkeit, müde von dem „Sich-durch-die-Welträume-Schleppen“ (S. 25). Sie breitet sich seit dem zunehmenden Verlust des inneren Kindseins in ihm aus: „Friede … herrscht nur … im Mundschwung des Kindes“ (S. 43). Er denkt, dass die Welt an das Individuum allzu hohe Erwartungen stelle („Fürchte die Musen, die dir mit Versprechungen kommen!“ (S. 39), und hofft auf Lianen, die ihn aus dem Dschungel gesellschaftlicher Widerstände retten könnten.
Aus dem Gefühl für Fortbewegung wird bald „die Empfindung, … im Barfußgehen zu stiefeln!“ (S. 31). Sein Vorwärts entwickelt sich zunehmend zum Rückwärts, das Gehen beschränkt sich bald nur noch auf das gedankliche Hin und Her des belesenen Querdenkers. Als Schwellengeher zwischen hier und dort beklagt er wiederholt den Verlust an Liebe und Geborgenheit, die ihm während seines Lebens Schritt um Schritt abhandengekommen sind: „Kleiner Liebesdienste tägliche Bewahrung, sonst bedarf es keiner Offenbarung“ (S. 31). Er zeigt Anwandlungen von Ängstlichkeit gegenüber dem Jenseits und fragt sich, wo der Stachel des Todes bei ihm ansetzen könnte: „Das Reich der Toten nur nicht herausfordern, es schlägt zurück!“ (S. 40)
Diese Eindrücke vom Älterwerden sind in Abschnitte unterteilt, die ordnen wollen, was nicht zu ordnen ist, denn der Gedankenstrom wirkt untrennbar miteinander vernetzt, ineinander verschlungen, inhaltlich wie sprachlich. Manchmal wollen dem Ich-Erzähler die Sätze nicht gehorchen, weil sich Lebenserfahrung und Ratio als nicht deckungsgleich erweisen. Vorgefertigte, eingelernte Sätze, die durchs Leben helfen sollten, überzeugen den Sprechenden nicht. Schmerzlich assoziieren Lesende hier die autobiografische Tragik in Peter Handkes Erzählung „Wunschloses Unglück“. Auf einem „Terrain vague“ (S. 51) tastet sich der Ich-Erzähler Aussage um Aussage zu seiner eigenen Lebenserfahrung vor, doch trägt ein Satz, ein jedes Wort den Widerspruch bereits in sich, sodass der vorsichtig Artikulierende seine Formulierung wiederholt zurücknimmt.
Aus Gedankenverkettungen erwächst die Sinnsuche. Doch plötzlich beendet eine Zäsur jäh den Redefluss, so wie im Zen-Garten eine querende Mauer den Bach des Lebens stoppt: In einem genialen Regiestreich tauscht der Autor den Erzähler aus. Das Ich muss weichen, es wird abgelöst von einem auktorialen Erzähler, der – entgegen allen narrativen Erwartungen – keine Ahnung vom eigentlichen Geschehen zu haben scheint, denn er vermutet es bloß, das Verschwinden des Ich-Erzählers, schönredend, jambisch getaktet und an die Bühnensprache Shakespeares erinnernd: Könnte etwa ein Unglück passiert sein, am Rand einer stark befahrenen Schnellstraße, wo der Ich-Erzähler gesichtet wurde, als er mit weiten Augen in die Tiefe eines angrenzenden Waldrestes gestarrt hat?
Es handelt sich um kein ästhetisches Waldstück, wie in Handkes Erzählung „Die Lehre der Sainte-Victoire“. Der beschnittene Wald symbolisiert vielmehr den Verlust der Lebenslust des Einzelnen, bewirkt durch den zunehmenden Rückzug des Kindes in seiner Gedankenwelt. Verursacht nicht die Zeit, sondern dieser Mangel an Lebenswillen das körperliche Altern?
Gehen ist Denken, haben wir von Thomas Bernhard gelernt. Doch anders als Thomas Bernhards rhythmische Prosa „Gehen“ thematisiert Peter Handkes prosaischer Quergang letzten Endes die Dramatik des Vereinsamten, den die Zeitgenossen nicht ausreichend wahrnehmen. Ein autobiografischer Hilfeschrei des Autors? Peter Handke bricht unreflektierte Gewohnheitssprache auf, setzt viele Komposita neu zusammen und wendet sich in Neologismen gegen die fremd- wie selbstverschuldete Isolation des Individuums: „… jetzt die Hilferufe: helfen? Ich? Nein!“ (S. 14).

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