Thomas Sautner: Pavillon 44

Thomas Sautner_Erich Reismann

Thomas Sautner | Foto: © Erich Reismann

Thomas Sautner

Autor: Thomas Sautner
Titel: Pavillon 44 – Roman
Verlag: Picus Verlag
ISBN-10: ‎ 3711721494
ISBN-13: ‎ 978-3711721495
Erschienen: 28. August 2024 (1. Edition)

Klappentext

In einer psychiatrischen Anstalt am Rande Wiens sammelt Primar Siegfried Lobell die spannendsten Fälle. Von seinen Patientinnen und Patienten in Pavillon 44 erhofft er sich Erkenntnisse über das Rätsel Mensch, den eigenartigen Zustand der Welt und über das obskurste Mysterium von allen – sich selbst.
Als zwei seiner Patienten verschwinden, macht sich auch Lobell auf in die Wiener Innenstadt. Was er findet, sind jede Menge Verrückte, aber nicht die beiden.
Der Besuch der Schriftstellerin Aliza Berg, die sich in Lobells Pavillon 44 als Gast für eine Rechereche einquartiert, macht die Sache nicht besser …

Rezension

Von Peter Reutterer
Autor und Musiker, Henndorf

Die Leichtigkeit des Nichts

Nach seinem letzten Buch „Zwei alte Männer“ kehrt Thomas Sautner wieder zu seinem ureigensten poetischen Tun (wie 2021 in „Die Erfindung der Welt“) zurück, nämlich dem Mysterium unseres Daseins möglichst tiefschürfend auf den Grund zu gehen. Die Idee, dafür eine Autorin ins Sanatorium Baumgartner Höhe zu schicken und im Pavillon 44 unterzubringen, scheint nur auf den ersten Blick abstrus. Denn alle, die sich schon einmal redlich mit dem Mysterium unseres Daseins beschäftigt haben, stimmen wohl mit Thomas Sautner überein, dass sich die Hintergründe unseres Existierens keinesfalls über einen exzessiven Denkakt erschließen. Vielmehr vermag eine gehörige Portion Verrücktheit hilfreich sein, um zum Wesentlichen unseres rätselhaften Daseins vorzudringen. „Wenn du das Leben nicht begreifst, bist du noch zu wenig verrückt“, heißt es diesbezüglich im finalen Teil des Romans. Und dem zynischen Biochemiker Primar Thaler wird erklärt, er leide an zu vielem Denken. Man nenne das in Afrika „Kunfungsia“.

Der Autor hat vor Beginn der Niederschrift gewissenhaft seine Hausaufgaben erledigt. Nicht nur, dass er sich zwischen 2010 und 2015 tatsächlich ins Otto-Wagner-Spital in den Pavillon 44 begeben hat, um Gespräche mit Personal und Patienten zu führen. Nein, er kennt zudem sowohl die wichtigsten religiösen Ansätze als auch die maßgeblichen atomphysikalische Theorien, die Modelle einer möglichen Welterklärung entwickeln. So gebe es z.B. einen neuen physikalischen Ansatz, der lediglich zwei Dimensionen dem Augenscheinlichen zugrunde lege. Dabei entpuppe sich die uns so selbstverständlich dreidimensionale Welt als eine Art Hologramm. Wiederkehrend im Verlauf des Romans die Weltsicht des Stationslieblings Cecilie, die meint 6212 Jahre alt zu sein. Die Welt bestehe aus vielen Verschachtelungen, verkündet sie, in jeder Schachtel sei immer das Nichts, aber auch ein Körnchen Wahrheit. Zuletzt wird in einem von Sautner immer wieder eingeschobenen „Postskriptum“ festgehalten, eine Forschungsarbeit der TU Wien zeige, die Welt sei als Gedankenkonstrukt begründet und damit zeitlos, raumlos und von höchstmöglicher Realität.

Damit sind wir bei dem bezaubernden Personal des Romans angekommen. Hauptfiguren sind vorrangig die Autorin Aliza Berg, die Sautner-Leser bereits aus „Die Erfindung der Welt“ kennen und der schrullige Primar Siegfried Lobell, der seine Prominenz wie Unkündbarkeit nicht zuletzt der Freundschaft mit dem Wiener Bürgermeister verdankt. Aliza und Lobell wagen sich in die Welt der im Pavillon 44 betreuten Verrücktheit gefährlich weit hinein. Nicht zuletzt suchen sie über dieses Wagnis sich selbst. Aliza Berg erlebt infolge einer ihr von Primar Thaler heimlich verabreichten sexualsteigernden Substanz Enthemmung und Hingabe, für sie von nun an Kern erlösten Menschseins. Jenseits aller Geilheit nimmt sie bis ins Tiefste der Seele reichende Schwingungen und liebevolle Energie wahr. Siegfried Lobell dagegen gestattet nicht nur zwei seiner Patienten für einen Tag auszubüxen, er setzt auch die eigenen Psychopharmaka ab und erfährt in der Kirche am Steinhof eine mystische Erhebung zu luzider Klarheit: Dabei fühlt er sich schwebend leicht, sieht die Welt zwischen Sein und Nichtsein oszillieren, erkennt, dass er einen Sohn hat, der „Jesus“ heißt. Inmitten dieser Ekstase stürzt Lobell auf den marmornen Kirchenboden. Sein Sohn Jesus findet und birgt ihn, der ehemalige Primar wird fortan als Komapatient betreut.

Besonders reizvoll unter dem vielfältigen Personal sind die beide Freunde Dimsch und der bereits erwähnte Jesus. Der eine hört die Stimme eines verstorbenen Freundes, der andere ist in Wien auf der Suche nach seinem Vater, nämlich Gott. Seine Erleuchtung mündet in der Feststellung, der Vater habe die Welt aus dem Nichts als Hologramm geschaffen. Mit dem Kunstgriff der ausgebüxten Freunde macht Thomas Sautner seinen Roman nebenher zu einem fundierten Wienbuch. Da geht es nicht nur um Wissenswertes, z.B. über den Stephansdom oder Wiens Kaffehauskultur, es bietet auch recht Amüsantes z.B. über den Wiener Bürgermeister, der von seiner Frau erpresst wird, weil er zu wenig Sozialdemokratie in den politischen Alltag einbringe. Sie droht ihm, mit Lockenwicklern im Fernsehen aufzutreten und ihn auf diese Weise bloßzustellen.

Nicht zu Unrecht haben die Romane Sautners eine Fangemeinde, der Autor beherrscht das vielfältige und zugleich ineinander verschlungene, mitunter ausufernde Erzählen, wie es ein guter umfangreicher Roman (450 Seiten) leisten kann. Wollte man etwas Kritisches anmerken, könnte man sich an einzelnen Stellen etwas Zurückhaltung bei allzu naheliegenden Schnurren wünschen. Müssen z.B. Lobell und der Bürgermeister unbedingt wienerisch deftig über Prostataprobleme disputieren? Das schmälert aber keineswegs den Wert der tatsächlich witzig pointierten Passagen, z.B. wenn Jesus im Anstaltspyjama in der Wiener Innenstadt sich umsieht und Dimsch lakonische Antworten gibt. Unerwähnt soll nicht bleiben, dass der Autor ausgesprochen punktgenau formuliert. Dabei bedient er sich mitunter Neologismen wie „untertatsächlich“ oder findet so eindringliche Sentenzen wie „Die Leute verzweifeln an den Leuten“. Zudem entwickelt er immer wieder sowohl inhaltliche als auch metaphorische Kleinodien wie „…und alle, die an die Idee der Mitmenschlichkeit glaubten, ließen diese Kuppel (Steinhof) himmlisch leuchten.“

Siegfried Lobell im Koma und seine ihn liebevoll umsorgende Assistenzärztin Fraukenschlag bleiben zurück, wenn alle besonderen Patienten aus dem Pavillon 44 ins sogenannte normale Leben zurückkehren. Aber normal ist nichts, das habe ich bereits gewusst, bevor ich die ersten Zeilen dieses großartigen Romans gelesen habe. Hätte ich es nicht gewusst, hätten es mich diese vielfältig verschlungene, erkenntnisreiche und poetische, aber auch amüsante Lektüre gelehrt.


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