Wo ist Saraje-wo?

Sarajevo

Sarajevo | Alle Fotos: © 2024 Karl Bauer

Bericht einer emotionalen Städtereise

Nur wenige meiner Bekannten interessieren sich nach wie vor für die Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Sie kennen noch am ehesten die Urlaubsstrände an der Adria, aber weniger das Hinterland, das manche zumindest auf Durchreise queren und interessante Einblicke bekommen.

Karl Bauer

Von Karl Bauer, Gleisdorf, Steiermark

Ich kam vom 22.-26. Juli 2024 dorthin, um einen Freund zu besuchen, der schon seit 4 Jahren als Leiter eines EU-Programmes tätig ist. 

WO ist Sarajewo verortet?

Die Hauptstadt Bosniens und der Herzegowina (BiH) war einst Teil eines bosnischen Königreichs. Heute wird sie doch noch oft mit der Ermordung des k.u.k. Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie assoziiert, worauf vor genau 110 Jahren der “Grosse Krieg” ausgebrochen ist, der später als Erster Weltkrieg in die Geschichte einging und Europa grundlegend neu ordnete.

Historisch stand Saraje-WO immer für einen Zusammenfluss der Kulturen und Religionen, einen besonderen Ort der Völkerverständigung, wie man ihn in Zukunft umso mehr bräuchte. Die Stadt liegt am Fluss Miljacka (der Ursprung der Bosna liegt in Ilidza, einem Vorort von Sarajevo), und nährt sich heute sehr stark aus seiner Zeitgeschichte, ja man wird in die Belagerung, Gewalt und Terror vor 30 Jahren augenscheinlich und unmittelbar zurückversetzt, dem die Stadt und ihre Bewohner machtlos ausgesetzt waren.

Der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 führte zu unermesslichem Leid und unvorstellbaren Exzessen bosnischer Serben gegen die Bevölkerung. In der Stadt leben bis heute v.a. Menschen mit bosnischer, serbischer und kroatischer Herkunft. Der Staat  selbst ist in die bosnische Föderation, die Republika Srpska und den Distrikt Brcko aufgeteilt, dadurch politisch handlungsunfähig und wird zunehmend von Russland, China und den arabischen Ländern beeinflusst. Der Krieg findet bis heute statt – zwar bislang ohne Waffen – aber es wird weiterhin versucht, diesen Staat zu zerstören.

WO man sich auf die Suche nach kulturellen Statements begibt, findet man deshalb eine erst in den letzten 5 Jahren entstandene, stark ausgeprägte Erinnerungskultur: Ausstellungen bzw. Museen zum 2. Weltkrieg, Tito und den Partisanen, dem Genozid in Srebenica, zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Gewalt gegen Kinder während der 3-jährigen Belagerungszeit begleiten uns überall und schockieren bis heute.

Der am Sarajewo Film Festival (SFF) 2022 gelaufene Film “Sarajewo Safari” des slowenischen Regisseurs Miran Zupanic zeigte dies auf brutalste Art auf: Bosnischen Serben verkauften als Belagerer “Menschenjagden” an reiche Ausländer, die als Scharfschützen die Bürger der Stadt Sarajewo gegen Geld töten konnten. Kinder waren teurer, weil sie nicht so leicht getroffen werden konnten…!

Filmfestival

Es ist schon schlimm, wenn ein Krieg ausbricht und Soldaten gegeneinader kämpfen müssen, es ist schlimmer, wenn Zivilisten zu gezielten Opfern werden, am schlimmsten ist der völlige Moralverlust unter Belustigungen und Verhöhnungen mit totaler Vernichtung eines Volkes (Genozid).

Eine Bronzeskulptur im Stadtpark zeigt einen Vater, der nach seinem Sohn ruft: er könne wieder aus dem Wald zurückkommen, weil die Serben versprochen haben, sie nicht zu ermorden, sondern ihnen zu helfen – Jahre später fand man beide in einem Massengrab.

Als “Kunst im öffentlichen Raum” gelten auch die “Sarajewo-Rosen”, die an jenen Plätzen zu finden sind, wo über 3 Personen während der Belagerung von Granaten getötet oder erschossen wurden.

WO aber bleibt dabei die Rolle der modernen Kunst und Kultur in einer Stadt mit einer Kunstakademie, einer Konzerthalle und einem Schauspielhaus? Die Musik- und Filmszene ist wohlbekannt und international gut etabliert. Im kleinen und feinen Schauspiel- und Literaturmuseum ist Ivo Andric, dem Nobelpreisträger von 1962, ein eigener Raum gewidmet – der erst kürzlich in Graz verstorbene große Humanist Dzevad Karahashan scheint dort noch nicht auf.

Zur jungen Avantgarde zählt der Historiker Nermin Bosnjak, der in seinem Erstlingswerk “Unbreakable” in Form von oral history Personen und ihre Schicksale im Belagerungskrieg beschreibt. Mit einer filmischen Dokumentation “Sarajewo March” hat er 2017 am jährlichen SFF teilgenommen, das eine wichtige kulturelle Institution im Bürgerkrieg zum Erhalt des Widerstandswillens war.

Neben der Anzahl postmoderner Museen gibt es leider nur wenige Galerien bildender Kunst zu aktuellen Positionen ausserhalb einer ständig begeleitenden “Kriegskunst”. Man fragt sich: WO treibt sich denn die junge Kunstszene Sarajewos herum? Gute Adressen sind sicherlich das das Gradski Muzeji mit seiner “ars aevi”, das bosnische (BiH) Kulturzentrum wie auch die Galerie “manifesto”, während die BiH-Nationalgalerie eher postmoderne Kunst – wenn auch mit österreichischen Bezügen – zeigt. Bleiben noch das Europahaus und die diversen Kulturforen der Botschaften mit ihren Ausstellungsräumlichkeiten, die man meist gratis benützen kann.

Saraje-WO? – Wohin geht der Weg? Kommt es nach 1914 – 1945 und 1995 bald wieder zu einem neuen Krieg? Gegen den äußeren Feind hat man sich im 2. Weltkrieg in Partisanenverbänden umfassend organisiert, gegen die inneren Feinde ist man machtlos. Eine große Stadt mit gut erhaltenem architektonischen Erbe und einem Schmelztiegel europäischer Kulturen, darf trotz aller Bürden und Erinnerungskultur seine Zukunft nicht verlieren und muss zu einem Saraje-WOW mutieren. Wenn schon die Politk stagniert, die Wirtschaft schwächelt und die Menschen dystopische Perspektiven haben, liegt es doch immer an der Kunst und Kultur, ihren Beitrag zu liefern und unsere humanistischen Werte für die Zukunft zu retten …?!

PS: Obwohl ich nun schon seit 20 Jahren die Länder des West-Balkan bereise und schon einige grausame Tatsachen persönlich kennengelernt habe, bin ich von dieser Reise nach Sarajewo ob dieser unmenschlichen Geschehnisse zutiefst berührt. Die Rolle der Kunst ist es, dies für die Nachwelt aufzuzeigen und – wenn mögich – unser Bewußtsein zu verändern. Wir alle waren schon seinerzeit während der Balkankriege überrascht, wozu Menschen heute in Europa noch fähig sind und sind noch immer sprachlos.

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