„Ich rufe meine Brüder“ – ein schwerer Fall von Paranoia

Ich rufe meine BrüderAaron Röll, Leyla Bischoff, Younes Tissinte, Lisa Fertner

Der schwedische Schriftsteller Jonas Hassen Kehmiri verdankt es seinem tunesischen Vater, dass er manchmal misstrauische Blicke zu spüren bekommt. Wie fühlt man sich als Mann mit arabischem Aussehen, wenn wieder einmal eine Autobombe detoniert?

Elisabeth Pichler

Von Elisabeth Pichler

Kehmiri hat seine Erfahrungen in einem 2013 in Schweden uraufgeführten Theaterstück verarbeitet. Nun ist Sarah Henkers einfühlsame Inszenierung als Jugendstück ab 13 Jahren in den Kammerspielen zu erleben. Das vorwiegend junge Publikum war bei der Premiere am 16. Mai 2024 von der kraftvollen Sprache besonders begeistert und applaudierte kräftig.

„Ich rufe meine Brüder an und sage: Da ist neulich so ein krankes Ding passiert. Habt ihr gehört? Ein Mann. Ein Auto. Zwei Explosionen. Mitten in der City. Ich rufe meine Brüder an und sage: Jetzt geht’s los. Haltet euch bereit.“

Amor tanzt betrunken in einer Diskothek, genau in der Nacht, in der alles passierte. Immer wieder klingelt das Telefon, doch er geht nicht ran. Das wird sich aber noch ändern, denn bald irrt er ziellos durch die Stadt, gelähmt von Paranoia. Nur keine misstrauischen Blicke auf sich ziehen. Doch wie schaut ein „normales Verhalten“ aus und was würde ihn verdächtig machen? Am besten so weitermachen, als wäre nichts geschehen.

Er telefoniert mit seinem Freund Fabi, der mit ihm im selben Viertel aufgewachsen ist. Doch der ist nun verheiratet und hat ein Baby, das heute zum ersten Mal eine Banane gegessen hat, da hat er wenig Verständnis für die Sorgen seines Freundes. Dann telefoniert er mit seiner Cousine Ahlem in der weit entfernten Heimat. Sie war einst ein starkes Mädchen, doch nun ist sie zur sanften Esoterikerin geworden. Bei ihr dreht sich alles um das neue Haus, er soll doch bitte endlich die defekte Bohrmaschine umtauschen. Auch seine ehemalige Flamme Valeria ist keine große Hilfe. Sie ist sauer, fühlt sich gestalkt und will nichts mehr von ihm wissen.

Am besten funktioniert noch der Kontakt mit seiner toten Oma, die er im Himmel besucht. Spätestens hier wird klar, dass es sich bei Amors Kontakten nicht um Dialoge, sondern um Selbstgespräche handelt. Er braucht diese imaginierten Visionen, sie helfen ihm gegen die Einsamkeit.

Amor hat Matura und studiert jetzt. Eigentlich ist er ein Nerd, der die Menschen nach ihren Eigenschaften mit Elementen aus dem Periodensystem einteilt. Sein Schulfreund Fabi ist für ihn Helium, weil Helium alles leichter macht. Valeria hingegen Osmium, weil das die größte Dichte hat. Younes Tissinte verkörpert diesen verwirrten Kopfmenschen sehr authentisch, seine Ängste und Selbstzweifel sind nachvollziehbar. Aaron Röll, Leyla Bischoff und Lisa Fertner schlüpfen in die unterschiedlichsten Rollen, doch können sie Amor die Angst nicht nehmen.

Philipp Eckle hat bewegliche Bühnenelemente aufgebaut, die sich vielseitig verwenden lassen und anfangs fast einen Sog bilden. Für Jugendliche wäre eine gute Vorbereitung auf das Stück anzuraten, denn ganz so einfach ist der ständige Wechsel zwischen Realität und Visionen nicht. Trotzdem ein wichtiges Stück zur richtigen Zeit.

Dorfgockel

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