Können wir uns den Grünen Kilian ersparen?

Ausgemusterter Christbaum

Verspätetes Weihnachtsgeschenk

Bevor ich mich an den hölzernen Balken unseres Balkons lehne, schaue ich nach, ob von den lieben Vöglein nicht etwas Patziges zurückgeblieben ist und dann erst auf meine Umwelt.

Reinhard Lackinger

Von Reinhard Lackinger,
Pensionierter Beislwirt in Salvador, Bahia, Basilien

Unsere Rua Oito de Dezembro sieht wie immer wie ein Teil der Peripherie aus. Sie mündet schräg und wenige Meter rechts in die Avenida Princesa Isabel.

Ich blicke auf den regen Verkehr der Personenkraftwagen, die an der Omnibushaltestelle vorbeifahren. Auf der überdachten Bank an der Hauptader sitzen Menschen und warten auf ihr Kollektivgefährt, das sie in die Nähe der Adresse bringt, zu der sie sich begeben wollen. Den restlichen Weg werden sie mit eigenen Beinen bestreiten müssen.

Auch Fußgänger versuchen zwischen dem Asphalt der Av. Princesa Isabel, der den motorisierten Fahrzeugen gehört und den am Bus Stop Sitzenden vorbeizukommen.

Ein „verfluchter“ Acker für zu Fuß Gehende, für die auf einen Omnibus Wartenden und für Motorradfahrer, die sich zwischen große Vehikel zwängen müssen.  

Welches Weiterkommen der Passagiere oder Passanten hängt von mehr Kleinigkeiten und Details ab?

Das erinnert mich an die Zeitplanung. An eine meiner Aufgaben in der lokalen Industrie, die mein Gehirn beibehalten hat. Es ging damals um das Zerstückeln von Produktionsprozessen. Arbeitsgänge, die in einer bestimmten Ablauffolge geschehen mussten.

Das Beschreiben der Bruchteile des zu Fuß Gehens, und zwar in einer mangelhaft urbanisierten Stadt wie Salvador, wäre sogar einem Dr. Mabuse zu mühsam.

Das Erheben von der Bank der Omnibushaltestelle, das Erklettern des Gefährts, das sich Körper an Körper Platz machen und das Stehen, weil der Bus bereits überfüllt ist, erscheint uns verständlicher.

Am wenigsten braucht sich der Besitzer eines neuen, mit den letzten Extras bestückten PKW-Modells zu bemühen, um von A nach B zu kommen. Wer einen Wagen mit automatischem Getriebe, Park- und Navigationshilfe und vielleicht sogar mit Sprachsteuerung fährt, braucht nur seinen Hintern auf dem komfortablen Ledersitz niederlassen und den Sicherheitsgürtel anschnallen. Klimaanlage und Musik funktionieren auf verbalen Befehl.

Wie sagt Peter Rosegger: „Nur wer sich zu Fuß an einen bestimmten Ort begibt, war wirklich dort!“

Aber was tut der Mensch? Er bemüht sich, alles Menschliche zu reduzieren und wenn möglich, aus der Welt zu schaffen.

Ich habe von Wohnungen reicher Zeitgenossen gehört, wo eine elektronische Anlage einer Stimme gehorcht, die alle Pflanzen in den Zimmern, auf den Verandas im Wintergarten und auf der Terrasse mit der richtigen Menge Wasser und mit flüssigem Dünger versorgt.

Wo ist der Acker mit seiner klebrigen Erde, den Steinen, den renitenten Wurzeln und den Regenwürmern? Wie viel Geschicktheit und Muskelkraft müssen wir aufbringen, um einen Garten umzustechen?

Was dachte sich Daniel Defoe, als er Robinson Crusoe in die Rolle eines Zuckerrohr Bauern steckte, ehe er aus ihm den berühmtesten aller Schiffbrüchigen machte?

Robinson kaufte hier an der Allerheiligenbucht in Bahia und unweit von Salvador ein Stück Land, um als Pflanzer reich zu werden. Dabei zählte Robinson außer seinen beiden Händen nur mit der Arbeitskraft eines britischen Knechtes und der eines schwarzen Sklaven.

Mit diesem Aufgebot hätte Robinson vielleicht einen Schrebergarten anlegen können, um einige Kräuter zu ziehen, aber keine Zuckerrohrplantage.

Unsinnige, spekulative und wirklichkeitsferne Fiktion ist also bereits zu Daniel Defoes Zeiten geschrieben und veröffentlicht worden.  

Sogar in der Bibel bestellt nicht der brave, gottgefällige Abel den Acker, sondern der böse, neidische Kain.

Die westliche Heilige Schrift erzählt uns jedenfalls vom Kain, der im Schweiße seines Angesichts im verfluchten Acker wühlt und essbare Pflanzen zieht.

Ich erkenne in seiner mühsamen Arbeit keine Verdammung, sondern das Gegenteil, den Segen, sein ganzes Potenzial gebrauchen zu dürfen, während Abel als Hirt auf der faulen Haut liegt, Tiere ausnutzt, Schafe schert und ihre Milch trinkt.

Ich nehme also keinen eindeutigen, biblischen Grund wahr, um Neid als Mordmotiv anzugeben.

Ich tippe eher auf eine falsche Auslegung der Heiligen Schrift. Es kann auch sein, dass mächtige Gutsbesitzer eine für sie vorteilhafte Übersetzung durchgesetzt haben. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, dass Potentaten mit der Amtskirche packelten, um Vorteile für beide Seiten zu erlangen.

Wer sich der Erde untertan macht, den Acker pflegt und Lebensmittel erntet, wer also Positives schafft, kann angesichts eines weniger tatkräftigen Mitmenschen niemals und keineswegs vor Missgunst und destruktivem Neid erblassen und nach einer Keule greifen, um den Verlierer zu töten. Wer seine Talente vergeudet, ist längst abgestraft.

Im Koran, der erst mehrere Jahrhunderte später niedergeschrieben worden ist, hat sich die Menschheit bereits eines Besseren belehrt und es geht aus der Heiligen Schrift des Islams nicht klar hervor, wie jeder der beiden Brüder die Erde nutzte.

Neid kann sowohl verständlichen als auch unbegreiflichen Gegebenheiten entsprießen. Nicht nur jenen, die uns plausibel erscheinen oder uns von „Influencern“ nahegelegt werden.

Hermann Hesse dachte auch darüber nach. Vor allem während er “Demian, die Geschichte einer Jugend”, schrieb.

Wer sich erlaubt, anders zu denken und eigene Schlüsse aus der Vergangenheit, alten Schriften und neuen Bloggern zu ziehen, darf keine sofortigen Reaktionen wie Verständnis und Zustimmung erwarten. Kollektive Bewertung und Aufmerksamkeit lassen gerne auf sich warten. Aber nicht länger als 350 Jahre.

Seit Miguel de Cervantes lebt die Literatur von jeder Art Fiktion. Seitdem haben viele alles über Nichts geschrieben, andere wiederum haben Weltumwälzendes nur angedeutet und oberflächlich skizziert.

Was will der nach Langenwang zu Fuß gehende Peter Rosegger nicht nur dem Leser, sondern auch dem schreibenden Menschen sagen?

In Roseggers Weihnachtsgeschichte „Als ich Christfreude holen ging“ trägt sich folgendes zu. 

Auf dem verschneiten Heimweg bergauf, bot sich der in jenen Bergen als Grüner Kilian bekannte „Nichtsnutz“ an, Peterls Bündel zu tragen. Vermutlich roch der mittellose „Versager“ den Duft der Genussmittel, als er das Paket mit den Waren in seinen leeren Korb legte.

Der Grüne Kilian war auf dem Weg nach Hause. In seiner Hütte in Fischbach warteten Weib und Kinder auf ihn und seine korbartige Trage.

Bald holte der Erwachsene mit seinen langen Beinen immer weiter aus. Peterl, der immer weiter zurückblieb, bangte um seine Lebensmittel. Es war nicht mehr weit bis zur Abzweigung, wo sich die Pfade des Grünen Kilians und Peterls trennten. Als beide das Fuhrwerk eines Bekannten einholten, schrie Peterl um Hilfe und der Grüne Kilian war gezwungen, das Packerl wieder herzugeben.

Auch wenn Peter Rosegger den Grüne Kilian nur am Rande erwähnt, sehe ich im sozial minderbemittelten „Versager“ eine emblematische und zeitlose Figur, die sich mit jeder erdachten Person messen kann.

Wäre Peterl mit einem Schlittengespann unterwegs gewesen, hätten wir den missachteten Charakter des Grünen Kilians verpasst.

Wenn also Literatur alles kann und Fiktion keine Grenzen kennt, wird uns jede Allegorie, jede Figur erlaubt sein. Wir können auch auf den Grünen Kilian verzichten.

Wir können uns den Grünen Kilian ersparen. Peter Roseggers Feder erlaubte das aber nicht. Der Heimatdichter aus den Obersteirischen Bergen hat ihn uns heimlich unter den Christbaum gelegt. Detail: Es klebt kein Namensschild auf diesem Geschenk.

Salvador, 11. Jänner 2024

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