Die erfolgreiche australische Autorin Joanna Murray-Smith geht in ihrem hochaktuellen Drama der Frage nach: „Wo hört Toleranz auf?“ Die österreichische Erstaufführung fand am 18. März 2015 in den Kammerspielen statt. Ein intensiver Theaterabend, der zwei Stunden lang, trotz des ernsten Themas, mit Witz und Ironie überzeugte.
Von Elisabeth Pichler
Die erfolgreiche Hirnforscherin Alice Harper wird demnächst eine humanitäre Auszeichnung erhalten. Gerne lässt sie sich daher von einer jungen, engagierten Journalistik-Studentin interviewen. Ihr Gatte, ein erfolgreicher Schriftsteller strahlt weniger Selbstvertrauen aus, er verfasst „dicke Romanen mit schlanker Prosa“ und meint, dass ihm lediglich mangelnde Selbsttäuschung im Wege stehe.
Das Ehepaar blickt auf 22 gemeinsame Jahre zurück und ist mächtig stolz auf ihren wohlgeratenen Sohn Joe. Die Vorzeigefamilie gerät unter Druck, als der Klassenlehrer erscheint und behauptet, Joe habe mit seinem Freund Trevor Graffiti auf eine Moschee gesprüht. Während die Mutter völlig die Nerven verliert und sogar handgreiflich wird, sucht der Vater sofort nach einem Sündenbock.
Joe jedoch spielt da nicht mit, er steht dazu, dass die Schmiererei ganz alleine seine Idee gewesen sei. „Uns gefällt nicht, wie wir deinetwegen dastehen“ fürchten die Eltern um ihr Image und fragen sich, was da falsch gelaufen sein könnte, hätten sie doch ihren Sohn stets im Geiste der Toleranz erzogen. Rechtsradikales Gedankengut und Hassverbrechen waren in dieser Familie nie ein Thema. War das aber wirklich immer so? Als die hartnäckige Journalistin Alice mit einer alten Schuld konfrontiert, zerbricht die ach so heile Welt der Bilderbuchfamilie.
Gabriele Fischer überzeugt als eloquente, temperamentvolle Wissenschaftlerin, die gesteht, dass Zorn für sie die Leidenschaft sei, die ihr zum Erfolg verholfen habe. Dieser souveränen Karrierefrau fühlt sich ihr Gatte (sympathisch Christoph Wieschke) nicht gewachsen, er steht lieber zu seinen Schwächen. Tim Oberließen als zorniger, junger Mann hat genug davon, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen, seine Wut richtet sich vor allem gegen seine dominante Mutter: „Du kannst mich nicht so hinbiegen, wie du gerne möchtest.“
Stark Sophie Gross als ehrgeizige Journalistin. Für amüsante Szenen sorgen die Auftritte von Gregor Weisgerber als Paradebeispiel eines überheblichen Klassenlehrers: „Wenn du Verständnis suchst, geh zu einem Psychiater, ich bin Pädagoge.“ Britta Bayer und Axel Meinhardt verkörpern als Eltern von Joes Freund Trevor eine Durchschnittsfamilie, für die die Harpers nur Mitleid empfinden. Köstlich die Aussprache, bei der alle aneinander vorbeireden, da völlig unterschiedliche Weltanschauungen aufeinanderprallen.
Marco Dott hat das realistische Gegenwartsstück temporeich in Szene gesetzt und lässt bei jedem Szenenwechsel ein schrilles Alarmsignal ertönen. Der sterile, weiß verflieste Raum strömt Kälte aus, die blauen Giftfässer, die nach und nach auf die Bühne gerollt werden, wirken bedrohlich (Ausstattung: Eva Musil). Ein raffiniertes Stück über Toleranz, Lebenslügen und die Rechtfertigung von Gewalttaten. „Ich war jung, gelangweilt und wütend. Ich dachte, das ist es wert.“ (Alice Harper)
„Zorn“ von Joanna Murray-Smith. Österreichische Erstaufführung. Inszenierung: Marco Dott. Ausstattung: Eva Musil. Mit: Gabriele Fischer, Christoph Wieschke, Tim Oberließen, Gregor Weisgerber, Britta Bayer, Axel Meinhardt, Sofie Gross. Fotos: © Anna-Maria Löffelberger
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