Anna Herzig: 12 Grad unter Null

Anna Herzig | Foto: Haymon Verlag - Wildbild

Anna Herzig | Foto: Haymon Verlag - Wildbild

Titel: 12 Grad unter Null
Autorin: Anna Herzig
Verlag: Haymon
ISBN: 978-3-7099-8192-4
Erschienen: 13. 04. 2023

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Klappentext:

Die Dystopie einer Frau in einer Welt für Männer und von Männern

Anna Herzig malt eine Zukunft, die ihre Grundlage im Jetzt findet:
Greta ist im sechsten Monat schwanger. Eigentlich ein Grund zur Freude, denn Greta und Henri haben lange Zeit versucht, Kinder zu bekommen. Doch dann ändert sich plötzlich die Gesetzesgrundlage in Sandburg: Von nun an wird es jedem Mann ermöglicht, jegliches Geld, das dieser in eine Frau investiert hat, zurückzuverlangen. Wird den Forderungen nicht Folge geleistet, droht ein kompletter Rechteentzug. Auch Henri, Gretas Verlobter, möchte sein Geld zurück. Doch bezahlen kann sie ihn nicht … Verzweifelt wendet sich Greta an ihren Verlobten: Henri habe nicht die Absicht sich zu trennen, er wolle schlichtweg zurück, was ihm zusteht, auch wenn Greta das gemeinsame Baby in ihrem Bauch trägt. 14 Tage habe sie Zeit. Greta wird konfrontiert: Mit Henris Kälte und Gleichgültigkeit. Mit dem Kapital, das ihr zur Verfügung steht. Mit ihrem zurückliegenden Leben und einer unsicheren Zukunft. Wie viele Jahre muss sie subtrahieren, um nicht bankrottzugehen?

Ein Verrat, dessen Geschmack kein neuer ist.
Als sich abzeichnet, dass Greta weder bei ihrem Verlobten noch bei der zukünftigen Schwiegermutter auf Verständnis stoßen wird, wendet sie sich hilfesuchend an ihre ältere Schwester. Die Schwester, die vom Vater drangsaliert wurde, während Greta das Goldkind war. Die Schwester, die ihre Wut an Greta ablassen musste, weil sie keinen anderen Umgang damit finden konnte. Nach und nach wird klar, in welch verstrickter Familiensituation die beiden aufwuchsen: der Vater als Sinnbild des Patriarchats. Die Mutter, die jeden Tag aufs Neue versuchte, ihren Ehemann nicht gegen sich oder die Töchter aufzubringen. Die Suppe darf niemals kalt werden. Alles muss perfekt sein. Aber was, wenn „perfekt“ nicht erreichbar ist? Wenn es „perfekt“ gar nicht gibt?

Zwischen Wut und Machtlosigkeit, Zerbrechlichkeit und Zorn: Helfen wir, wenn wir können?
Oder schließen wir die Augen? Gretas Schwester, die große, die „nicht-schwangere“ sagt ihr Hilfe zu. Doch wird sie ihr wirklich beistehen? Hat sie das Kindheitstrauma überwunden? Oder ist es Greta, die getriggert durch die Gesetzesänderung und die Härte, mit der Henri sie und ihre Beziehung behandelt, etwas tut, das sich nicht wieder umkehren lässt?
Anna Herzig schreibt über eine Gesellschaft, die Frauen eine Rolle aufzwingt, für die sie sie letzten Endes verachtet. Sie schreibt von der unerfüllbaren Rolle der Mutter. Von der Frage danach, wie weit wir gehen, um unsere Liebsten zu schützen. Und uns selbst.

Von Peter Reutterer
Autor und Musiker, Henndorf

Neuwertig, klar und kraftvoll

Mit ihrem neuen Roman nimmt uns Anna Herzig mit auf eine dystopische Tour de force. In Sandburg hat ein gekränkter Mann ein böses Gesetz über die ihm gewogenen Institutionen realisieren können: Jedem Mann ist es in dieser „neuen Zeit“ demnach möglich, jegliches Geld, das dieser in eine Frau investiert hat, zurückzuverlangen. Und das gnadenlos innerhalb von zwei Wochen. Eines der Opfer dieses juristischen Wahnsinns ist Greta, die schwanger ist. Ihr droht durch die horrenden Forderungen seitens ihres plötzlich gefühlskalten Verlobten der Bankrott. Sie wendet sich an Elise, ihre ältere Schwester, zu der sie lange keinen Kontakt hatte.

Mit dem Ausgangspunkt einer Frauen ruinös demütigenden Gesetzeslage trifft Anna Herzig zu allererst den Nerv unserer gesellschaftspolitischen Situation. Ja, unsere Welt droht durch allumfassende Ökonomisierung und kapitalistische Macht-Kumulierung zu erkalten. Wieviel Frost und Kälte in „Sandburg“ (Klingt da nicht ein Städtename an?) durch die Machenschaften gekränkter Männer sich ausbreitet, ist eindringlich dargelegt. Im Zusammenhang mit dieser Radikalität ist man versucht, in der Autorin einen „weiblichen Thomas Bernhard“ zu sehen. Gleichzeitig hebt mit dem Konstrukt der Frauen vernichtenden Gesetzeslage eine Art Parabel an. Die beinahe wie in einer Versuchsanlage fortgeführten Entwicklungen werden bis zu einer entscheidenden und lehrreichen Schlusswendung weitergesponnen.  

Auf einer zweiten Ebene führt Anna Herzig im Rückblick aus, wie verhängnisvoll familiäre Verstrickungen wirken können: Die vom Gatten schikanierte Mutter hat über viele Jahre gebuckelt und sich aufgerieben, um den Familien-Tyrannen nicht aufzubringen. Greta galt als Goldkind, Elise wurde drangsaliert und begegnete der willfährigen Schwester mit Wut. Das Bild der Herkunftsfamilie ist beklemmend klar gezeichnet, die fatale Dynamik schlüssig. Und erstaunlich, wie konstant solche destruktive Familienfestungen sich aus früheren Jahrhunderten bis ins 21. Jahrhundert fortschreiben.

U.a. als fettgedruckte Überschrift wird „Die Suppe“ zum Symbol für das Machtgehabe des Vaters (und aller Patriarchen). Die Suppe muss am Namenstag minutiös seinen Vorstellungen entsprechen.

Wie bei Elfriede Jelinek schreibt Herzig ein stringentes Plädoyer gegen die Ausbeutung von Frauen, die u.a. mit der Forderung nach unerreichbarer Perfektion einhergeht, wie die Autorin treffend analysiert.

Zuletzt möchte ich auf zwei Nuancen des Textes hinweisen, die mir trotz ihrer Marginalität nicht unwesentlich scheinen: Wenn die Akzidentien für die Suppe aufgelistet werden oder auch zu Beginn die neue unerhörte Rechtslage mit juristischer Akribie vorgebracht wird, bekommt der Gestus der Übertreibung leicht satirische Züge. Auch in diesem Zusammenhang ist man an die Literatur Bernhards erinnert. Die zweite Nuance, die ich ansprechen möchte, ist bedeutsamer: Der Roman endet parabelhaft in einer Vision der Hoffnung: Die drei Frauen verbünden sich gegen die Täter, gegen die hinterhältigen Taktiken des Vaters und seiner patriarchalisch orientierten Nachfolger.

Resümee: Anna Herzig legt mit „12 Grad unter Null“ ein packendes Plädoyer gegen die noch immer virulente Demütigung von Frauen bzw. eine eiskalte kapitalistische Gesellschaft vor, zugleich öffnet sich der Roman zuletzt in eine Vision weiblicher Solidarität. Dies alles intelligent strukturiert und stilistisch prägnant wie vielfältig. Ein literarisch wie politisch sehr bedeutsames Buch.


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